Kinder unserer Zeit

Lippenspiele an der Haustür: Wie man die wachsende Kluft zwischen Völkern und Religionen auch überbrücken kann

Es klingelte an der Haustür, und ich schreckte zusammen: Hatte das Klingeln nicht einen unüberhörbaren arabischen Akzent? „Wer ist da?“, fragte ich in die Gegensprechanlage.

„Posst!“ Auch ein arabischer Akzent – natürlich ließ ich die Tür geschlossen. Wenige Sekunden später trotzdem Schritte auf der Treppe: Wie hatte er das bloß ins Haus geschafft? Bestimmt mit einem falschen Pass. Dann klingelte es an der Wohnungstür. Ich spähte durch die Schießscharte und erkannte ein Gesicht mit unübersehbarem arabischen Akzent: „Grüß Gott – was wollen Sie?“

„Allahu akhbar“, sagte er – freundlich, doch mich konnte man nicht täuschen, „ich bringe Ihnen ein Päckchen.“

„Bestimmt ’ne Bombe!“

„Nein – Beate-Uhse-Versand.“

„Die ist doch längst tot“, enttarnte ich den mutmaßlichen Terroristen.

„Weiß nisch – machen Sie bitte auf!“

„Nein!“

„Doch!

„Nein!“ Der Nord-Süd-Konflikt war voll im Gange.

„Passen Sie auf“, verkündete er, „isch mach Ihnen Angebot – schauen Sie her“: Durch die Schießscharte sah ich, wie er ein Teppichmesser aus der Jacke zog und vor sich auf den Boden legte. Dann hob er die Hände: „Ganss unbewaffnet!“

Ich öffnete, und der Mann überreichte mir mein Päckchen. In seiner Hand staken mehrere Schrotkugeln. „Das war der Arsch von Oker 23“, erläuterte er, als er mein fragendes Gesicht erblickte, „hat auch schon sswei Dealer und ein Pisseria-Besitsser erschossen!“

„Das tut mir leid“, erklärte ich bestürzt. Schreckliche Tage waren das - ein ständiger Taumel zwischen Kurzschluss und Propaganda.

„Ach“, lachte er, „macht nix: Was kümmert es die dumme Sau, wenn sich ein Eischel an ihm reibt!“

Ich mochte ihn. Auch äußerlich gefiel er mir . . . , nun ja, nicht schlecht – gar nicht schlecht! „Wie heißt du?“, wurde ich persönlich.

„Jupp!“

„Jupp?“

„Kommt von Yussuf. Isch mag disch auch“, näherte er sich mit seinen Lippen den meinen. Mir wurde schwindlig: In Gedanken sah ich diese Postkarten vor mir, mit dem Gesicht, das aussah wie meines, also mit meinem Gesicht: „Yussuf und ich lieben uns“, stand darunter, „seine Eltern wollen mich dafür umbringen. Die Nato auch.“

Langsam war mir alles egal. Ich fand ohnehin, dass man den Nord-Süd-Konflikt auch ganz anders lösen konnte: Behutsam küssten wir uns. Schnell wurden die Lippen fordernder, forschender, kam die Zunge zu Hilfe. Wie herrlich er roch – nach Kardamom und Schießpulver!

Am Ende siegte doch die Vernunft, siegten unsere Verpflichtungen, siegte wohl auch die Propaganda über die betörende Verlockung des aufkeimenden Begehrens, und wir lösten uns wieder voneinander: „Isch muß . . .“, lächelte er verlegen.

„Heim, zum Falafelessen?“, riet ich. „Woher weissu?“, drohte er, „bissu FBI??“, und zog ein Teppichmesser aus dem Stiefel. Sofort lag wieder dieses schreckliche Misstrauen über uns.

Wir waren eben Kinder unserer Zeit.

ULI HANNEMANN