Märtyrer oder Dämon

Held des Islam oder Objekt des Zorns der Hindu-Göttin: Bin Laden polarisiert die Menschen Südasiens

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Wie der militärische Kampf zwischen den USA und Ussama Bin Laden auch ausgehen mag, zumindest auf dem indischen Subkontinent scheint Bin Laden den ideologischen Krieg zu gewinnen. Im Westen mögen sich Ausgrenzung und Verdächtigung von Andersgläubigen und Andersfarbigen in Grenzen halten. Doch in den Gesellschaften der Dritten Welt verwandelt sich das Bild des Terroristen in das des Märtyrers – oder Dämons.

Drei beinahe zeitgleiche Ereignisse in Bangladesch, Indien und Pakistan – mit nahezu 400 Millionen Muslimen die größte islamische Bevölkerung der Erde – verdeutlichen dies. Das erschreckendste Beispiel sind die Schüsse auf betende Christen in der pakistanischen Stadt Bahawalpur. Die Täter bekannten sich nicht zu ihren Taten, doch Slogans, die sich in die Gewehrsalven mischten, zeigten, dass sich die Mörder als Kämpfer des Dschihad verstanden. Pakistanische Zeitungen zitierten nach dem Massaker in der Dominikus-Kirche Aufrufe radikaler Organisationen. Sie kündigten an, dass jeder Muslim, der bei der Verteidigung Bin Ladens sterben müsse, ein „Christenopfer“ in Pakistan verlange.

„Be Indian, Buy Indian“

In Malegaon, einer wuchernden Industriestadt voller „Sweatshops“ nördlich von Bombay, kam es zu Zusammenstößen zwischen Muslimen und Hindu. Die Abfolge der Ereignisse zeigt, wie rasch unterschwellige Ressentiments einen Flächenbrand entzünden können und wie virulent ein Symbol wie Bin Laden dabei wird. Junge Männer verteilten nach dem Freitagsgebet vor der Moschee Flugblätter, in denen sie zum Boykott amerikanischer Waren aufriefen, mit dem Slogan „Be Indian, Buy Indian“. Als ein wachhabender Polizist einem Jungen die Zettel aus den Händen riss, kam es zum Handgemenge. Dies führte zu einem Protestzug durch den Basar, bei der Läden von Hindus mit Steinen beworfen wurden. Nun richteten sich die Parolen nicht mehr gegen die USA, sondern ließen Ussama Bin Laden und die Taliban hochleben. Diese „obszöne Lobhudelei für einen Massenmörder“ – so eine bekannte Journalistin aus Delhi – brachte Hindus in Rage, und bei einer Gegendemo wurde die Moschee angegriffen. Ein Ausgehverbot zeigte keine Wirkung, ebenso wenig Tränengaseinsätze der Polizei. Diese griff schließlich zu scharfer Munition. Drei Menschen wurden erschossen, darunter ein dreijähriges Kind. Die Begräbnisse gaben der Gewaltspirale eine neue Drehung, die Unruhen griffen auf Dörfer in der Region über.

Als zum Schluss die Armee einschritt, waren zwölf Menschen tot und15 schwer verletzt. 225 Personen wurden verhaftet. Die Opfer gehörten beiden Religionsgemeinschaften an. In Indien stellen die Muslime oft lokal die größere Gruppe, die Hindu sehen sich in der Minderheit. Daher zeigen beide Gemeinschaften oft die Aggressionsreflexe einer verfolgten Minderheit.

In Bangladesch dagegen sind die Verhältnisse klar. Ähnlich wie in Pakistan stellen Hindu und Christen dort nur winzige Minderheiten in einer islamischen Gesellschaft. Wie im benachbarten indischen Westbengalen feiern auch die bengalischen Hindu im Herbst das „Durga Puja“. Die Verehrung der zornigen Göttin Durga (Kali) soll ihre Rachelust besänftigen. Überall werden Altäre mit ihrer Statue aufgestellt, Rituale, Theatervorstellungen und Feste sollen die Göttin gütig stimmen. Durga erscheint in den „Pandals“ meist mit mehreren Waffen in ihren vielen Armen, die den Feind niederstreckt. Manchmal ist der Feind die böse Welt, und Durga sucht die Menschen mit Hunger, Erdbeben und Überschwemmung heim.

In einem Dorf im Süden Bangladeschs, so heißt es, wurde zum Fest eine Figur Bin Ladens dargestellt als Objekt von Durgas Zorn. Dies provozierte muslimische Dorfnachbarn, die darin ihre Religion verhöhnt sahen. Die Gipsdarstellungen wurden zerstört. Dies führte bald zu einer Welle von Vandalenakten gegen die bunten Darstellungen und Zeremonien, auch dort, wo Bin Laden gar nicht abgebildet war. Den Angriffen auf die „Pandals“ folgten Übergriffe auf Läden und Häuser von Hindus, und als sie sich verteidigten, wurden sie körperlich bedroht. Der Staat nahm sich offenbar Zeit mit der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Angst und Schreckensgerüchte trieben mehrere tausend Hindu zur Flucht nach Indien.

Geladene Atmosphäre

Im Fall von Malegaon kursieren verschiedene Versionen über den Funken, der die Unruhen entfachte – Gerüchte trugen wesentlich dazu bei. Das gilt auchfür die „Pandals“ von Bangladesch, wo es einen politischen Hintergrund für die Ausschreitungen gibt. Die Vorbereitungen zu „Durga Puja“ fielen dieses Jahr nämlich mit dem Regierungswechsel zusammen. Die Bangladesh Nationalist Party (BNP) bezwang die bisherige Regierungspartei Awami-Liga (AL) überlegen. Die BNP gilt als rechts und islamfreundlich, während die Liga ein säkulares Image hat. Hindus stimmen überwiegend für die AL, und sie werden es gerade dieses Jahr getan haben, denn die BNP koalierte mit dem „Jamaat Islami“. Die Spannung eines gewaltsamen Wahlkampfs entlud sich nach dem BNP-Sieg auf die Hindus. Aber auch in diesem Fall war es Ussama Bin Laden, der zum Symbol des religionspolitischen Grabens wurde – bei den Hindus in Form eines Dämons, bei den Muslimen dagegen als Volksheld, dessen Verunglimpfung an Blasphemie grenzt.

Die Koalition gegen den Terror bemüht sich, die Strafexpedition gegen Bin Laden und die Taliban nicht in einen Krieg der Religionen ausarten zu lassen. Für Bin Laden und sein Terrornetz al-Qaida dagegen ist dies die einzige Chance, der US-Militärmacht eine internationale „Glaubensmacht“ entgegenzustellen. In den Basaren und Slums, in Dörfern und Mittelschichtsvierteln Südasiens scheint die Rechnung aufzugehen. Es ist der Islam, der Zielscheibe ist, und es ist Ussama Bin Laden, der dafür zum – positiven oder negativen – emotionalen Sammelpunkt wird.

Dafür bedurfte es nicht einmal des Ausrutschers von Präsident Bush über den „Kreuzzug“ oder der biblischen Beschwörung der „unbegrenzten Gerechtigkeit“, die in diesem Kampf zwischen Gut und Böse obsiegen wird. Die Personalisierung der Religion als Identitätsstifterin, die Bin Laden – mit Hilfe der USA – gelungen ist, hat andere soziale Bindungsmuster verdrängt. So ist etwa die christliche Minderheit in Pakistan bitterarm. Soziale Identitäten verschwinden jedoch hinter dem allgegenwärtigen Bild des Helden und Märtyrers oder des Dämonen und Terroristen Ussama Bin Laden. Muslime, die sonst jede bildliche Darstellung des Sakralen verbannen, lassen damit eine personifizierte Ikone der Religion zu. Sie erreicht genau das, was die islamische Theologie mit dem Bilderverbot eigentlich verhindern will: Bilder eines – in diesem Fall hasserfüllten – Menschen versperren den Weg zu Allah, dem „Barmherzigen, Allgütigen“.