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Fußballgucken mit einer Martinsgans
: Servietten zur Nachspielzeit

Das ist ein herber Rückschlag, denke ich, als mir klar wird, dass ich 55 Minuten zu früh am Bahnhof Zoo eingetroffen bin. Zwar gehörte ich schon immer zu den Menschen, die am liebsten mehrere Tage vor Abfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig campiert hätten, aber in den letzten Jahren hatte ich gelernt, diesen Hang zu kontrollieren. Ich hatte mich schon runter auf 15 Minuten und dachte, ich sei nun auch für die Zukunft vor derartigen Attacken gefeit – doch weit gefehlt! Der heutige Tag wirft mich um Jahre zurück.

Das verlängert eine Fahrt, die gerade mal knapp zwei Stunden dauert, um mehr als die Hälfte, wenn nicht sogar ein Drittel, glaube ich. Da hätte ich mir den ICE-Zuschlag auch sparen können. Nicht nur das, ich hätte eine dieser Zugverbindungen nehmen können, die nichts kosten, aber dafür auch nie ankommen.

Was nun? Ich entscheide mich zögernd für die eine oder andere Zeitung, denn das will schließlich wohl überlegt sein. Beim Zigarettenkauf lasse ich eiligen Kunden mehrfach den Vortritt, bis mich die Tabakfachverkäuferin freundlich anfährt: „Wat iss denn nu mit Ihnen?“, und ich nicht mehr länger warten kann. Ich erstehe einen lange vermissten Spitzer für all meine stumpfen Kajalstifte im Body Shop, meditiere über dem Durchklappern der Uhrzeiten auf der Anzeigetafel und entschließe mich, den gerade gekauften Spitzer gegen einen anderen umzutauschen. Das bringt mindestens sechseinhalb Minuten.

Dann gehe ich nach oben auf den Bahnsteig, denn dort kann ich wenigstens ein bisschen vor mich hinfrieren, das verkürzt das Warten ungemein. Der Zug ist pünktlich, obwohl das unter diesen Voraussetzungen auch keine Rolle mehr gespielt hätte, und bringt mich endlich nach Leipzig, wo gute Freunde mich erwarten. „Ich sag zwei zu null für die Ukraine, was sagst du?“ Ich sage zwei zu eins und begrüße die wichtigste Person des Abends, den Koch, der in der Küche eine enorme rohe Gans von einer Seite auf die andere dreht. „Das ist eine Gans aus der Zeit, als man die Vögel noch vor Kutschen gespannt hat und damit über Land gefahren ist“, meint er stolz und entnimmt die Innereien.

Da ist das Herz, der Magen, die Leber, aber was ist das? Es muss irgendwas sein, was die Gans zweimal hat. Es sind zwei knorpelige Bälle, die von einem elastischen Muskel zusammengehalten werden. Atmen Gänse durch eine knochengepanzerte Lunge oder verfügen sie gar über ein Geschlecht, das doppelt so groß ist wie ihr Herz? Es ist ein Rätsel, das wir an diesem Abend nicht mehr lösen werden.

Mit dem Anstoß in der Ukraine verschwindet die Sankt Martinsgans im Ofen. Sie wird in der 11. Minute erstmals mit einer Mischung aus Öl, Honig und Sojasauce bepinselt. Spätestens in der 26. Minute empfiehlt es sich, mit dem Kartoffelschälen zu beginnen. In der 31. Minute haben die Ersten ihre Wetten verloren. In der 50. Minute wird Nüsse knackend die Frage aufgeworfen, warum man eigentlich aus Walnüssen kein Marzipan macht. Wieder weiß keiner eine Antwort.

In der 89. Minute schlägt jemand vor, Oliver Bierhoff einzuwechseln. Kurz vor Beginn der Nachspielzeit muss nur noch das Rotkaut erwärmt und der Rotwein geöffnet werden. Alle Wetten sind verloren. Die Spieler gehen vom Platz, und wir nehmen unsere Plätze ein, Servietten auf die Kniee gelegt, in süßer Erwartung des urzeitlichen Riesenvogels aus dem Pleistozän.

Goldbraun, an seiner höchsten Stelle kross und dunkel wird das Tier feierlich, unter ernstem Applaus hineingetragen. Beim Ansetzen der Schere stellt sich heraus, dass das Fußballspiel, die nachträglichen Analysen hinzugerechnet, der Garzeit unserer Gans einen idealen Zeitrahmen bot, und wir sind sehr, sehr dankbar. MONIKA RINCK