„Dissident, Dissident zum Städtele hinaus, Städtele hinaus . . .“

Vor 25 Jahren wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert, als er zu einem Konzert in der BRD antrat. Ein denkwürdiger Moment der Weltgeschichte im West/Ost-Vergleich

Während ich im „Merkheft“ von Zweitausendeins blätterte, sah ich nicht voraus, dass dieses ganz zufällige und ziellose Blättern in einer Zeitreise enden würde. Der Katalog kündigte die Live-CD eines „großen Konzerts“ an, das überhaupt noch nicht stattgefunden hat. Gemeint war – Überraschung! – ein Konzert von Wolf Biermann. Ein Konzert, das er genau 25 Jahre nach seiner Ausbürgerung geben wird, um „eine große Summe“ zu ziehen. Wird Biermann schnöde materialistisch offenbaren, wie viel er als Chefkulturkolumnist bei der Welt verdient? Unwahrscheinlich. Außerdem interessiert dies niemanden, genauso wenig wie sein jüngstes Interview in der Super-Illu, das unter dem treffenden Titel „Seine Abrechnung“ erschien.

Vielmehr addierte ich ein paar eigene Erinnerungsbrocken. Wo und mit wem hatte ich die Aufzeichnung des legendären, epochalen, wenn nicht spektakulären Kölner Konzerts gesehen, das die Ausbürgerung zur Folge hatte, den sukzessiven Exodus vieler Künstler und „Künstler“ sowie aus Biermanns Sicht wahrscheinlich den Gesamt- und Totalzusammenbruch, vulgo Exitus eines Staates namens DDR?

Die Memory-Taste rastete ein. November 76: Sie war blonde fünfzehn und spielte Cello, ich war ebenfalls fünfzehn, aber mit zellulitischen Problemen, soll heißen: picklig. Ihre älteren Brüder agierten und agitierten wie’s dem Zeitgeist (West) entsprach. Der eine war bei einer der zahllosen K-Gruppen, der andere hatte das schon hinter sich und getauscht mit der im Körperpanzeraufbrechen führenden AAO-Kommune. Die Schwester, die ich auf die denkbar ungeschickteste Weise anbetete, kannte sich also ein bisschen aus in den aktuellen Weltverbesserungsdiskussionen. Zusammen schauten wir das Biermann-Konzert an. Wg. Positionsbestimmung bzw. Standortüberprüfung. Obwohl ich ihn kaum kannte, war es Pflicht, diesem makellosen Helden der Dissidenz, diesem unkorrumpierbaren Widerstandsdarsteller, diesem schonungslos auch die Sinnlichkeit nicht vergessenden Bilderbuchsozialisten zu lauschen. „Du lass dich nicht verhärten / in dieser harten Zeit“. Biermann meinte aber vermutlich etwas anderes als ich, der diesen Appell an die mir gegenüber etwas hartherzige junge Frau gerichtet wissen wollte.

Nach dreieinhalb Stunden räkelten wir uns im poetisch-politischen Wohlgefühlmief statt auf der Couch, standen auf der richtigen Seite statt ineinander verknäult zu liegen, aber ich bilde mir heute ein, zwar nur vage, aber immerhin geahnt zu haben, dass mit Biermann irgendwas nicht stimmte. Das so penetrant wie demonstrativ langsame Verfertigen der Gedanken beim Reden, die schlichten paradoxen Wortspiele, sein Leitsatz „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ – nein, irgendwas stimmte da nicht.

Auf dem Heimweg pfiff ich „Du lass dich nicht verhärten“ und geriet unversehens in ein Lied von Milva: „Er war gerade sechzehn Jahr / Fast noch ein Kind . . .“ Was das nun wieder bedeutete?

Einige Tage später lieh uns die Mutter des Mädchens eine Schallplatte: Wolf Biermann zu Gast bei Wolfgang Neuss. Neuss war komischer, besser. Und das Konzert von 1965 wahrhaft denkwürdiger, als das angekündigte je wird sein können. DIETRICH ZUR NEDDEN

Obwohl die europäische Langhaarmode Mitte der Siebzigerjahre längst dabei war zu verschwinden, hatte sich der jugendliche Protest in der langsamen DDR ausgerechnet aufs Hippietum kapriziert. Das brachte die marxistisch-leninistische Kampfpartei natürlich auf die Palme. Wer jetzt noch lange Haare trüge, schubse auch kleine Kinder in die Pfütze, hieß es. Aber es war viel schlimmer: Die Widerständler trafen sich lieber, um miteinander betrübt zu sein, veranstalteten unglaublich pastöse Feten, deren trübes Trinkziel darin bestand, einander Reiner Kunzes mundkopierte „Wunderbare Jahre“ zuzuraunen und Intoxikationen durch bulgarischen Importtraubenwein (Rosentaler Kadarka) aus Jesuslatschen herbeizuführen. Die Älteren, die Mut genug für einen eigenen Schnurrbart hatten, lauschten mit gefalteten Gesichtern einem Tierstimmenimitator und Gebärdensprachdichter, der sich eine Gitarre samt Protestnotenständer über den Bauch geklebt hatte. Sein Name aber war Wolf Biermann. Und die Quotenweiblichkeit fasste ihre Gemeinsamkeiten am besten unter mangelhafter Reinlichkeit zusammen und sann auf Partnertausch, wo es die Verhältnisse zwischen den Gebeten zuließen.

„Dissident“ hielt ich als damals Fünfzehnjähriger anfangs für eine neue westliche Zahnpastamarke. Da zwangen mich meine Erziehungsberechtigten unter Androhung geeigneter Strafen (Fernsehverbot, Verwandtenbesuche, Rosenkranzbeten) zum Besuch der legendären letzten Reiner-Kunze-Lesung im November 1976 in unserer Katholenkirche. Das sollte Folgen haben. Denn dadurch verpasste ich eine für das Verständnis der weiteren Serienfolgen äußerst wichtige „Tarzan“-Sendung. Einziger Vorteil des Exerzitiums: Man erkannte mit Leichtigkeit, dass man der Einfaltspinsel größter noch längst nicht war.

Nach Biermanns Ausbürgerung in diesem schlimmen November wurde es nicht besser. Eher noch schlimmer. Woche für Woche hatte der Clanchef unserer kleinen Widerständelei Erscheinungen zu luftgetrockneten Scherenschnittchen und mundgemalter Hinterglasbläserei. Einmal war Wolf-Biermann-Gedächtnisunterwäschemodeschau. „Seht diese Unterhose!“, rief er und hieb für jeden einen Zipfel ab. Nebenan stellten Teilzeitdissidenten mit Marzipantrompeten und Gummitrommeln Menschenversuche an und brachten mit prallen Reimen die Steine zum Platzen. In den Pausen setzte es Keith Jarrett, Angelo Branduardi und Andreas Vollenweider sowie vollgepinkelte Gitarren.

Wunderbar funktionierte denn auch in den Hippie-Zirkeln die Minoritätenmiliz, die einem vorschrieb, was man zu mögen hatte und wie man sich mit Biermann’schem Rülpsen, Grunzen, Augenrollen und Schlechtgitarrespielen bleibende Schäden zufügen müsse. Uniformiertheit und Uninformiertheit, sonst nix. Sollte so der Widerstand beschaffen sein? Er sollte.

Ein kleiner Biermann bin ich nicht geworden, sondern für knappe zehn Jahre ein rechtschaffener Brauer. Doch dass ich bei den Bartfüßern – Menschen, die aus nichts als langen Zauselbärten und Kindersärgen bestanden – einige Monate ausgeharrt habe, dafür würde ich am liebsten noch heute Schadenersatz einfordern. Nur von wem? MICHAEL RUDOLF