Nachschubweg für die Nordallianz

Der Fall von Masar-i Scharif eröffnet humanitärer Hilfe, aber auch Waffentransporten eine Nordroute – wenn der usbekische Präsident zustimmt

aus Termes JÜRGEN GOTTSCHLICH

Das Tor nach Afghanistan soll geöffnet werden. Ab 14. November, so verkündete eine Delegation aus der usbekischen Hauptstadt Taschkent am Sonntag in Termes, werden Hilfstransporte aus der usbekischen Grenzstadt nach Afghanistan hinein zugelassen. Ob dazu allerdings die seit vier Jahren gesperrte „Brücke der Freundschaft“ über den Amu-Darja, der Usbekistan von Afghanistan trennt, geöffnet wird oder die Hilfsgüter per Frachter über den Fluss gebracht werden müssen, ist noch nicht klar. Nach der Eroberung der größten nordafghanischen Stadt Masar-i Scharif durch Truppen der Nordallianz unter dem Kommando von General Raschid Dostam am Freitag und der daraufhin folgenden Flucht der Taliban aus der afghanischen Grenzstadt Hairaton am Samstag könnte Usbekistans Präsident Islam Karimow vielleicht die Brücke öffnen. „Für uns wäre das eine große Erleichterung“, sagt die Unicef-Koordinatorin Rupa Joshi. „Dann könnten wesentlich schneller wesentlich mehr Lebensmittel und Medikamente zu den hungernden und kranken Menschen im Norden und Nordosten Afghanistans gebracht werden.“

Bereits vor einer Woche hatte ein WFP-Vertreter erklärt, die Straßen in den Bergen seinen nur noch mit Schneeketten passierbar und könnten schon in wenigen Tagen völlig zugeschneit sein. „Wir kämpfen um jeden Tag“, weiß Rupa Joshi, „mehr als hunderttausend Menschen drohen allein in Nordafghanistan zu verhungern.“ Diese dramatische Lage ist für die usbekische Regierung jedoch gleichzeitig einer der wesentlichen Gründe, warum man die einzige Brücke über den Amu-Darja lieber weiterhin geschlossen halten will. Schon jetzt wird ein großer Flüchtlingsstrom von Masar-i Scharif aus in Richtung der sechzig Kilometer entfernten usbekischen Grenze gemeldet. Doch Karimow will keine afghanischen Flüchtlinge nach Usbekistan hereinlassen. In den letzten fünf Jahren haben es kaum tausend Afghanen auf das rettende Ufer nach Termes geschafft. „Wir wollen bei uns keine Verhältnisse wie in Peschawar“, ist die Parole der usbekischen Regierung, die von der Bevölkerung weitgehend geteilt wird. „Der Krieg“, so ein Händler auf dem Basar in Termes, „soll auf der anderen Seite des Flusses bleiben.“

Die geringe Zahl afghanischer Flüchtlinge in Termes erstaunt umso mehr, als der Krieg gerade in Masar-i Scharif besonders brutal geführt worden war. Im Mai 1997 verlor der jetzige Sieger Raschid Dostam als damaliger „Regionalfürst“ und Chef der usbekischen Minderheit, die den größten Teil der Einwohner Masars stellt, die Stadt erstmals an die Taliban. Sein Stellvertreter General Malik Pahlawan hatte den ebenfalls mit allen Wassern gewaschenen Dostam (siehe Porträt) verraten. Nur wenige Monate später stellte sich der wendige Malik jedoch an die Spitze eines Aufstands von Usbeken und Hasara gegen die überwiegend zu den Paschtunen gehörenden Taliban und ließ ein Massaker unter den Koranschülern anrichten. Fast tausend Taliban wurden erschossen, erschlagen oder zu Tode gefoltert – es war die größte Niederlage der Taliban seit ihrer Ankunft auf dem afghanischen Kriegsschauplatz 1994. Nur ein Jahr später nahmen sie furchtbare Rache. Als sie im August 1998 die Stadt zurückeroberten, schlachteten die Taliban-Milizen wahllos jeden ab, den sie auf der Straße erwischten. Mehr als 6.000 Frauen, Kinder und alte Leute wurden ermordet.

Es ist deshalb relativ wahrscheinlich, dass erste Berichte aus den Reihen der Nordallianz, ihre Truppen seien beim Einmarsch in die Stadt von der Bevölkerung „freudig“ begrüßt worden, nicht ganz falsch sind. Masar-i Scharif ist die Heimat Dostams. Er muss jedes Interesse haben, von den gequälten Bewohnern der Stadt, die einmal 200.000 Menschen zählte und die liberalste und offenste Stadt Afghanistans war, tatsächlich als Befreier angesehen zu werden. Schließlich soll über Masar-i Scharif nun endlich der der Nordallianz versprochene Nachschub an schwerem Kriegsgerät, Munition und Winterausrüstung geliefert werden, deren Transport über die Berge in Tadschikistan gar nicht oder nur sehr schwierig zu bewerkstelligen war. Wenn die Straße zwischen Masar-i Scharif und Hairaton von Minen geräumt worden ist, was relativ schnell möglich sein soll, könnten die US-Transporte rollen. Voraussetzung ist, wie für den Transport humanitärer Güter, dass die usbekische Regierung zustimmt.

Der amerikanische Druck auf Karimow wird enorm zunehmen, seine bisherige, öffentlich verkündete Position zu revidieren und von Usbekistan aus mehr als nur sogenannte humanitäre Rettungsaktionen der US-Truppen zuzulassen. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der vor gut einer Woche Usbekistan besucht hatte, will auf Drängen seiner Generäle in Masar-i Scharif eine Basis für US-Bodentruppen einrichten, was bei einer Versorgung über den Landweg von Usbekistan aus wesentlich vereinfacht würde. Doch nicht nur als Sprungbrett für US-Truppen; auch die Soldaten aus der Türkei und Teile der Bundeswehr, die Schröder Bush zur Verfügung stellen möchte, sollen gerüchteweise in Usbekistan stationiert werden und von dort in den Krieg gegen die Taliban eingreifen. Auch angesichts der wachsenden Proteste in Pakistan wird sich nach der Eroberung Masar-i-Scharifs, wie schon zu Zeiten des sowjetischen Krieges in Afghanistan, die Basis der Invasoren nach Usbekistan verlagern.