Blasse Farben

■ Die 32. „Neue Musik“ in Delmenhorst ließ über weite Strecken Energie vermissen

Der französische Philosoph François Lyotard charakterisierte die Kunst des 20. Jahrhunderts als „melancholia“ und/oder „novatio“. Der des 21. Jahrhunderts prognostizierte er, sie werde aus „Farbe“ und „Klang“ bestehen. Nach dem Konzert in Delmenhorst, dem 32. in der jährlichen Reihe „Neue Musik in Delmenhorst“, könnte das stimmen.

Zu Gast war das Ensemble „Zeitkratzer“ aus Berlin, in dem sich erlesene Namen aus der zeitgenössischen Musik, besonders auch aus der Improvisationsszene befinden: so der Posaunist Melvyn Poore, der römische Akkordeonspieler Luca Veritucci oder auch der Cellist Michael Moser. Allen neun Spielern (sic! keine Frau dabei) ist ihre Lust am Experimentieren, am Infragestellen traditioneller Werkbegriffe und Aufführungspraktiken anzumerken, nur: Vier von ihnen präsentierten jetzt Kompositionen, die als ästhetische Konzeptionen eher hilflos wirkten.

Der Saxophonist Ulrich Krieger schrieb „Il Cimitèro Chiuso“: eine Menge Klänge so leise und verfremdet, dass man ihnen ihre instrumentale Herkunft nicht anmerkt. Das quält sich ebenso vorwärts wie die „55 similar sounds+2 drummers drumming“, von Burkhard Schlothauer. Die ermüdenden 55 Klänge konnten auch technisch kaum realisiert werden, weil klappernde Ansätze und Abschlüsse ganz einfach nervten. Der nächste Klang esoterischer Selbstschau, diesmal nicht 55, sondern einer, war der zwölfminütige changierende „KratzAkkord“ von Melvyn Poore.

Schon nach einigen Sekunden war klar, dass vom rebellischen Altmeister der Avantgarde, Hans Joachim Hespos, ein unvergleichlich kraftvolleres Kaliber kam: „Bigu“– die neun Spieler sind im ganzen Saal verteilt – ist ein typischer Hespos. Alle haben nichts miteinander zu tun, spielen, blöken, singen und klappern quasi autistisch vor sich hin und erzeugen damit sekundenlang aufschießende scheinbar zufällige gemeinsame Konstellationen, die spannend und witzig sind.

Hespos, der an der Auflösung des Werkbegriffs ebenso beteiligt war wie an seiner Zementierung, spricht auch hier wieder emphatisch vom Alleinsein und „Einspruch des Subjekts“, wie es der Musiktheoretiker Heinz Klaus Metzger schon vor einem Vierteljahrhundert über den Delmenhors-ter gesagt hat. Nicolas Richter de Vroes „Äonen“ spiegeln eine Form- und Sinnsuche gleichermaßen: Strukturen fangen an und verlaufen nach einigen Minuten ins Leere. „Five“ von John Cage, eine Studie in einer einzigen Lautstärke, wirkte in der Wiedergabe der „Zeitkratzer“ vollkommen blass.

Ute Schalz-Laurenze

Am 29. Dezember wird im NordwestRadio eine Dokumentation über 32 Jahre Neue Musik in Delmenhorst gesendet