berliner szenen
: Eine Friedrichshainerin

Kinderliebe

Seit sechs Jahren wohne ich im nördlichsten Zipfel von Friedrichshain. Genau so lange schon begegnet mir immer wieder eine Frau, die auf der Straße lebt. Vielleicht hat sie auch eine Bleibe, das weiß ich nicht so genau. Sie ist oft abends und nachts, manchmal tagsüber unterwegs, steht oder sitzt an verschiedenen Straßenecken der Gegend und schwingt große, laute Reden, die meist nicht zu verstehen sind. Satzfetzen wie „Hau bloß ab“ und „Sag ich dir“ sind manchmal herauszuhören. Dabei hebt sie eine Faust und schwingt sie bedrohlich in der Luft. Doch sie spricht nie jemanden direkt an, wenn sie unverständlich vor sich hin schimpft.

Kinder haben oft Angst vor ihr und in der Gegend Fremde schauen ganz verdattert auf die scheinbar verrückte Person. Die Frau ist 60 oder auch 70 Jahre alt. Hat weißes langes Haar. Sonnengebräunte Haut. Trägt schwarze Kleidung, die von Monat zu Monat leicht variiert. Raucht, vor allem Stummel. Fegt öfter Unrat und jetzt Laub auf den Gehsteigen zusammen, vor drei, vier Läden im Karree: Gemüsegeschäften von Vietnamesen und dem türkischen Bäcker. Vielleicht bekommt sie dafür zu essen oder ein paar Groschen. Manchmal sehe ich sie noch nachts um zwei mit dem Besen hantieren. Nur eins macht sie gar nicht: Alkohol trinken. Manchmal schlürft sie einen Kaffee beim Bäcker, wo sie auch Brötchen kauft. Gelegentlich sah ich sie mit Leuten aus der Nachbarschaft reden. Wer weiß worüber. Letztens sprach sie mich zum ersten Mal an. Hielt kurz meine Hand mit ihrer weichen Hand, guckte mir in die Augen und zeigte auf die Kinder, die die Straße entlangliefen. Dann sagte sie nur einen Satz: „Viele Leute setzen Kinder in die Welt und lieben sie gar nicht.“

ANDREAS HERGETH