Wange an Wange mit den Jahreszeiten

Miniaturfamilien, Gedichte mit kleinen Buchstaben und Namen mit nur einem Buchstaben: Beim neunten „Open mike“ in der Literaturwerkstatt siegten die Jungautoren Nico Bleutge, Erika Anna Markmiller und Tilman Ramstedt

Die Namen von Literaturwettbewerben sind manchmal seltsam. „Open mike“ sieht zum Beispiel noch komischer aus, wenn man’s groß „Open Mike“ schreibt. Früher dachte ich, es ginge da vor allem um hastige Rap-Poesie. In Wirklichkeit liegt der Wettbewerb, der an diesem Wochenende zum neunten Mal in der LiteraturWERKstatt Berlin (ebenfalls komisches Schriftbild) stattfand, irgendwo zwischen dem alljährlich Ende November in Berlin stattfindenden Schülerschreibwettbewerb und dem Bachmann-Preis-Lesen in Klagenfurt. Einige wurden nach ihren Open-mike-Auftritten auch berühmt: Kathrin Röggla, Julia Franck, Terezia Mora, die 1999 den Bachmann-Preis gewinnen sollte, und Jochen Schmidt, der danach sein Buch „Triumphgemüse“ veröffentlichte und taz-Autor ist.

„Open mike“ ist eine gute Veranstaltung. Jeder deutschsprachige Autor, aus welchem Land auch immer, kann sich mit 15-minütigen Lyrik- oder Prosatexten beteiligen, solange er/sie die 35 nicht überschritten hat. Aus 800 Einsendungen hatte die sechsköpfige Auswahlkommission 24 TeilnehmerInnen ausgesucht. Sie kamen vor allem aus Berlin (10), Hamburg (4) und München (3). Anders als in Klagenfurt strukturell vorgegeben, blieb die prominent besetzte Jury (diesmal: Adolf Muschg, Jens Sparschuh und Julia Franck) angenehm im Hintergrund.

Einer der drei diesjährigen mit 3.000 Mark belohnten Preisträger kommt aus München und heißt Nico Bleutge. In seiner Kurzbiografie steht unter anderem: „Teilnahme an mehreren Literaturwettbewerben (u. a. Endrunde Würth-Literaturpreis 1998)“. Doch wer ist Endrunde Würth nur, und was hat sie geschrieben? Nico Bleutge jedenfalls ist 29, hat vor zwei Jahren über Musik promoviert und schreibt „Gedichte mit kleinen Buchstaben“ (Jochen Schmidt) und Miniaturen: „dieser blick zwischen mir/ und der dunstigen scheibe/ griff er hinaus, ein flacher schnitt/ in die falten der landschaft.“ Solche Dinge halt.

Einen weiteren ersten Preis erhielt Erika Anna Markmiller für ihre „Miniatur in F-Moll“. Erika Anna Markmiller lebt auch in München, kommt eigentlich, wie Herbert Achternbusch, aus dem Bayerischen Wald und ist auf eine Klosterschule gegangen. Sie fiel auf, weil sie ein bisschen darkwavig war. Bestenfalls gab es jemanden mit roten Haaren, wie den Dichter Crauss, der keinen Vornamen hat und viel mit „Crausstrophobien“ und „Sprachrhythmusstörungen“ rummacht.

Markmillers Text aber ist wunderschön und düster. Das erzählerische Mädchen-Ich lebt auf dem Dachboden. Sie hat ein Puppenhaus und spielt die Familie auf dem Dachboden nach; den kleinen Vater, der immer Klavier spielt, um nicht sprechen zu müssen, die kleine Mutter, die immer Wäsche waschen muss, um das Schweigen des Vaters zu ertragen, die große eitle Schwester, die immer so komisch stöhnt, wenn sie allein ist mit ihrem ekligen Freund. „Meine Miniaturfamilie hatte ich gern. Die Kleinen waren genauso dumm wie die Großen, aber ich mochte sie, weil sie klein und greifbar waren; man konnte ihnen zürnen, und sie nahmen sich’s zu Herzen. Ganz anders als die großen Schatten von Vater, Mutter, Schwester.“

Eine märchenhafte Intensität ging von ihrer musikalischen Geschichte aus, die im Fürchterlichen auch komisch war und deren Sätze noch lange im Kopf hängen bleiben, irgendwie: „Wo ist der Vater? Den hat das Klavier gefressen. Wo ist die Mutter? Die schleudert in der Waschtrommel, die geht in hellblaue Stücke. Wo ist die Schwester? Die ist auf dem roten Mond, da kommen die bösen eitlen Schwestern hin.“ Oder auf den „Nordfriedhof.“

Einen weiteren ersten Preis bekam der Berliner Tilman Ramstedt für seine Erzählung „Ausflug mit L“. Sie hat zwei Helden, die L. und Ich heißen, und handelt von einer gegengeschlechtlichen zärtlichen Freundschaft, die beiläufig kurz und irgendwie bedeutungslos romantisch ins Sexuelle spielt – wenn man nicht aufpasste, drehte man sich sozusagen wieder um und schaute wehmütig fast Wange an Wange am Fenster wieder den Jahreszeiten zu.

Buchstaben anstelle von ausgeschriebenen Namen gab es in ähnlichen Zusammenhängen häufig bei diesem Open mike. Man denkt dann immer, dass sich hinter Buchstaben eher echte Menschen verbergen als hinter ausgeschriebenen Namen.

Was soll man noch sagen? Das Sprachniveau der NachwuchsschriftstellerInnen ist sicher gestiegen, wenn auch nicht jeder was zu erzählen hatte. In den Pausen standen die DichterInnen und überlegten, wie Stefanie Richter aus Hamburg, die grad ein Praktikum beim Spiegel gemacht hat, hinter wem sich nun die Verlage und Agenten verbergen oder: „Ich hatte gedacht, die Verleger liegen mir hier zu Füßen, und jetzt steh ich hier.“

Thomas Naedler aus Berlin sollte man noch erwähnen, weil er in „Gottes eigener Band“ spielt und sein norddeutsch-ländlicher Text überaus lustig war.

DETLEF KUHLBRODT