Der Bundestag im Rücken

Jahrelang vertrauten die Bewohner des Plattenbaus an der Luisenstraße darauf, dass ihr Haus erhalten bleibt – auch wenn im Garten Parlamentsbauten entstanden. Doch der Abriss scheint seit Jahren geplant. Nur den Mietern hat man nichts gesagt

von JENS GERDES

Wer in die Wohnung der Fitzals will, hat auf die angebotenen Filzpantoffeln zurückzugreifen. „Sonst kann er auch draußen bleiben.“ Denn erst Ende letzten Jahres haben die Fitzals renoviert. „Neue Auslegeware gelegt zum Beispiel. Die Teppichkanten hier“ – Jörg Fitzal zeigt auf das unterste Stück Wand im Wohnzimmer – „habe ich überhaupt erst gebaut. Da war vorher einfach Linoleum hochgeklebt.“ Nach Feierabend hat Fitzal das gemacht, in der Zeit, die eigentlich seiner Frau und den beiden Kindern gehört. „Das hätte ich doch nicht gemacht, wenn wir einen Abrissbescheid vor Augen gehabt hätten, oder?“ Er wird sauer. „Jetzt bieten die mir für die vertane Zeit eine Entschädigung von 15 Mark pro Stunde. Ich bin doch kein Amateur!“ Aber um das Geld geht es eigentlich gar nicht. Eher ums Prinzip. „Wir wurden hier sieben Jahre lang verarscht“, resümiert Jörg Fitzal, „das waren sieben Jahre vertane Zeit.“

Die Fitzals wohnen in dem Plattenbau an der Luisenstraße, Ecke Schiffbauerdamm. Gegenüber liegt der Reichstag. Direkt hinter dem Komplex steht mitterweile das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Der Abriss des Plattenbaus scheint schon länger beschlossene Sache. Wesentlich länger jedenfalls, als die Hausbewohner davon wissen. Und die Scharmützel zwischen Bund, Stadt und Mietern scheinen im Nachhinein überflüssig – weil der Gewinner ohnehin von vornherein feststand. Nur wurde nie deutlich gemacht, worum es wirklich ging. Und die Art und Weise, wie dabei mit den Bewohnern umgegangen wurde, lässt für diese nur einen Schluss zu: „Die wollen uns blöde Ossis hier weghaben“, vermutet Heike Fitzal. „Sollen se mal ehrlich sein“, entfährt es ihrem Mann.

Die Traumwohnung

Eigentlich ist Jörg Fitzal überhaupt nicht aufbrausend. Im Gegenteil. Er ist Souschef im Hotel Maritim und entspricht durchaus dem Bild, das man sich von einem Koch macht. Füllig, gemütlich, kurze schwarze Haare, Schnäuzer – und die Fähigkeit, mehrere Entwicklungen gleichzeitig im Blick zu behalten und übersichtlich wiederzugeben.

In der Luisenstraße hatte 1990 die junge Familie Fitzal ihre Traumwohnung gefunden. „Das war für uns damals wie ein Sechser im Lotto.“ Der jüngere Sohn, Enrico, war gerade geboren worden, als Heike und Jörg Fitzal hier mit ihm und seinem vier Jahre älteren Bruder Marco einzogen. Für einen Plattenbau lag die Ausstattung weit über DDR-Standard, und Jörg Fitzal brauchte nur zehn Minuten zum Maritim-Hotel, das damals noch Domhotel hieß. Heike Fitzal zeigt Fotos aus der Zeit: Die Kinder spielen im eigenen Garten. Vom Fenster aus bot sich eine herrliche Sicht auf die Spree. Und als Christo und Jeanne-Claude im Sommer 1995 den Reichstag verhüllten, hatten sie einen „Logenplatz“, erinnert sich Heike Fitzal.

Die meisten Bewohner lieben ihre „Luise“. Das änderte sich auch 1997 nicht, als die Baumaßnahmen zwischen Plattenbau und Reichstag begannen. Direkt vor den Balkonen entstand das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Durch einen „Spreesprung“, eine Brücke über den ehemaligen Grenzfluss, sollte es mit dem Paul-Löbe-Haus verbunden werden. Beide Bauten bieten Platz für die Bundestagsabgeordneten. Die bauliche Verknüpfung des ehemaligen Ost- mit dem ehemaligen Westufer sollte im „Band des Bundes“ die Einheit symbolisieren.

Als die Bauarbeiten praktisch im Garten begannen mit Sonderbaugenehmigungen rund um die Uhr inklusive samstags und viel Lärm und Dreck, flohen die meisten Bewohner, ausgestattet mit einem Rückkehrrecht. Mehr als zwei Drittel der einst 162 Mietparteien haben das Haus bis heute verlassen. Als „Zwischenumsetzung“ bezeichnete das der „Sozialplan I“. Noch zwei andere Möglichkeiten sah dieser Plan vor: Mietminderung für die Verbleibenden oder gleich eine „Endumsetzung“. Und wie die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth noch am 23. Juli 1997 schriftlich versprach, „berühren die für die Herstellung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments notwendigen Neubauten den Bestand der Wohngebäude Luisenstraße 22A–30/Schiffbauerdamm 25 ausdrücklich nicht.“

Familie Fitzal wollte sich nicht „zwischenumsetzen“ lassen. Hauptsächlich wegen der Kinder. Auch wenn die Wohnqualität deutlich nachließ: weil der permanente Krach mit der Schichtarbeit von Jörg Fitzal nicht besonders gut harmonierte. Oder weil Textilien, zum Trocknen auf den Balkon gehängt, rasch schmutziger waren als vor der Wäsche. „Aber wir haben Strom gespart.“ Heike Fitzal gibt sich keine Mühe, ihren Sarkasmus zu verbergen. „Von der Baustelle gab es ja genug Licht. Nachts, sogar an Feiertagen, waren die Kranscheinwerfer aus Sicherheitsgründen immer an.“ Bauarbeiter ohne Schlüssel klingelten zu unmöglichen Zeiten in den Wohnungen, um irgendwie ins Haus zu gelangen, erzählt Heike Fitzal.

Doch die Jahre des Ausharrens sollen sich jetzt nicht gelohnt haben. Der „Bebauungsplan II 200 c“ klassifiziert das Gelände vor dem gerade fertig gestellten Marie-Elisabeth-Lüders-Rohbau als „Sondergebiet Deutscher Bundestag“. Und im vergangenen Sommer ließ eine Raumkommission des Deutschen Bundestags verlauten, „dass das Grundstück Luisenstraße 22A–30/Schiffbauerdamm 25 in Berlin-Mitte entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans für Zwecke des Deutschen Bundestages benötigt wird“. Mit anderen Worten: „Das, was die Bundesregierung haben will, das bekommt sie auch“, zitiert Jörg Fitzal den FDP-Fraktionsgeschäftsführer Ulrich Heinrich.

Quasi rechtskräftig

Schon Anfang des Jahres habe das Mitglied der Bundestags-Baukommision das den Mietern mitgeteilt. Rechtskräftig sei jener Beschluss zwar noch nicht, aber „schon quasi rechtskräftig“, heißt es im Hauptstadtreferat der Senatsverwaltung für Stadtententwicklung. Der Bebauungsplan sieht eine Straße für das Gelände vor. Und der Plattenbau? Statt einer konkreten Benennung des Abrisses die Ausflucht in eine absurde rhetorische Gleichzeitigkeit: „Die Anbindung geht da durch.“ Noch liegen den Fitzals also keine Pläne vor. Aber „nach den Bundestagswahlen dauert das keene Woche, da flattert der Abrissbescheid rin!“, berlinert Frau Fitzal bitter.

Nur die Mietverträge sind nicht so einfach zu kündigen. Zu welchen Konditionen die Mieter bereit wären, das Haus zu verlassen, soll eine „Arbeitsgemeinschaft Sozialplanung und angewandte Stadtforschung“ (AG SPAS) herausbekommen – und auch gleich bei der Vermittlung von Alternativwohnungen behilflich sein.

„Diese AG-SPAS-Leute sind überhaupt nicht kompetent“, meint Fitzal. Weit mehr als eine Stunde habe man unten im Büro sitzen und Wohnraumwünsche vortragen dürfen. Der Herr schien auch eifrig bemüht, machte sich Notizen. „Schon am Freitag darauf kam eine Liste mit Wohnungsangeboten. Mit Besichtigungsterminen ab Montag.“ Lange musste Jörg Fitzal allerdings nicht überlegen, wie das mit seiner Arbeitszeit zu vereinbaren wäre. Er zeigt den Schrieb vor: Von den sechs Angeboten ist lediglich eines preislich akzeptabel – eine Ein-Zimmer-Wohnung. Einige größere Wohnungen auf der Liste kosten mehr als das Doppelte von dem, was Fitzals ohne Mietminderung für ihre jetzige Bliebe aufwenden müssten. Unter der Liste steht die lapidare Aufforderung: „Bitte gehen Sie direkt zu den angegebenen Besichtigungsterminen.“ Eine Wohnung haben sich die Fitzals tatsächlich angesehen. „Ich bin Koch, habe sogar schon im Fernsehen gekocht. Wie können die mir eine Wohnung anbieten mit einer Küche, die kleiner als acht Quadratmeter ist?“, ärgert sich Fitzal.

Die AG SPAS versucht es derweil noch anders. Jetzt lohne sich der Auszug noch, suggeriert ein weiteres Schreiben. Jetzt. Noch. 150 Mark Abfindung pro Quadratmeter bewohnter Fläche wird jedem umzugsbereiten Luisenbewohner in Aussicht gestellt, sofern er noch 2002 die Bleibe wechselt. Im ersten Vierteljahr 2003 gibt es dann nur noch 90 Mark, danach 60 und vom ersten Juli bis zum 30. September 2003 noch 30 Mark. Bis zum Ende des Jahres 2003 wird jeder aufgegebene Quadratmeter mit nur noch 15 Mark entschädigt. Was passiert denn ab 2004 mit Auszugsunwilligen? „Das lässt sich alles einvernehmlich regeln“, betont Helmut John, Sprecher der Oberfinanzdirektion Berlin, die das Bundeseigentum verwaltet. „Zumal wir unseren anerkannt schönen Wohnungsbestand dafür einsetzen.“ Darüber können die Fitzals nur lachen. „Wenn die Wohnungen so top sind – warum will da dann keiner rein?“