Ein begrenzter Vormarsch

USA und Militärexperten warnen: Besetzung afghanischer Nordprovinzen ist noch kein militärischer Wendepunkt

von ERIC CHAUVISTRÉ

Die Nordallianz hat gestern weitere Städte im Norden Afghanistans eingenommen. Der iranische Rundfunk meldete die Vertreibung der Taliban aus der Stadt Herat im Westen des Landes nahe der Grenze zu Iran. Auch die Stadt Kundus im Nordosten Afghanistans, zwischen Masar-i Scharif und Kabul gelegen, soll nach Berichten der Nordallianz unter ihrer Kontrolle sein.

Bislang gibt es keine bestätigten Berichte über größere Zahlen von getöteten, verletzten oder gefangenen Taliban-Kämpfern in den von der Nordallianz eingenommenen Gebieten. Iranische Quellen berichten allerdings über eine große Zahl eingeschlossener Taliban-Truppen bei Kundus, und eine Sprecherin des Welternährungsprogramms in Islamabad berichtete gestern über Hinrichtungen im Schnellverfahren in der von der Nordallianz eingenommenen Stadt Masar-i Scharif.

„Die Taliban haben taktische Rückzüge gemacht, um Verluste in den eigenen Reihen zu vermeiden“, erklärt Joanna Spear vom Institut für Kriegsstudien am Londoner King’s College, die plötzliche Übernahme der Gebiete durch die Nordallianz. Die Taliban versuchten nun offenbar, sich auf die Paschtunengebiete des Landes zu verteilen.

In einigen Fällen einigten sich offenbar örtliche Warloards mit Kommandeuren der anrückenden Nordallianz und übergaben Gebiete ohne Widerstand. Nach Berichten der Nordallianz wurde die Stadt Taloqan im Nordosten des Landes ohne jeden Kampf eingenommen. Drohungen und Versprechen an die örtlichen Befehlshaber reichten aus.

Psychologisch ist der Rückzug der Taliban aus dem Norden des Landes sowohl für die Nordallianz als auch für die US-Regierung bedeutend. Als militärischer Wendepunkt wird die Einnahme mehrerer Nordprovinzen aber weder von der militärischen Führung in Washington noch von unabhängigen Beobachtern gewertet. Ein Vorteil für die weitere Kriegsführung der USA besteht in der Kontrolle mehrerer Flugplätze im Norden. Dadurch verringert sich die Abhängigkeit von Basen in Usbekistan, Tadschikistan und Pakistan für die Versorgung und Unterstützung von in Afghanistan operierenden Spezialeinheiten. Auch müssten Luftangriffe dann nicht mehr hauptsächlich von weit entfernt liegenden Flugzeugträgern geflogen werden.

Dennoch spielt auch das Pentagon die unmittelbare militärische Bedeutung der Nordallianz-Erfolge herunter. Selbst die bald mögliche und sehr symbolträchtige Einnahme Kabuls durch die Nordallianz würde nach Ansicht von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld keinen Durchbruch bedeuten. „Kabul ist nicht das wichtigste militärische Ziel“, sagte Rumsfeld am Sonntagabend im Gespräch mit dem US-Fernsehsender Fox. Es mag formell die Hauptstadt des Landes sein, so der Pentagon-Chef – und gibt zu bedenken: „Die Taliban haben ihre Hauptstadt in Kandahar.“ Rumsfeld deutete sogar an, dass es neben den politischen Nachteilen einer schnellen Einnahme Kabuls auch militärisch unvorteilhaft sein könnte. Denn wer auch immer Kabul einnimmt, müsse auch für die Versorgung sorgen, und dies sei ein enormer Aufwand. Nach Ansicht der Militärexpertin Spear ist das von Bergen umgebene Kabul zudem zwar einfach einzunehmen, aber schwer zu verteidigen.

Der Washingtoner Militärexperte John Pike, Leiter des Forschunsginstituts Globalsecurity.org, sieht das Vorrücken der Nordallianz schlicht als Einnahme ihres angestammten Herrschaftsgebietes. Darüber hinaus wird sie das Land nach Ansicht Pikes nicht kontrollieren können: „Der Nordallianz ist es in der Vergangenheit nicht gelungen, Afghanistan zu regieren, und ihr wird dies in Zukunft nicht gelingen.“ Umgekehrt gelte für die der Volksgruppe der Paschtunen entstammenden Taliban, dass sie sich nun auf ihr angestammtes Bevölkerungsgebiet zurückziehen, auf dem sie deutlich weniger Feindseligkeit zu befürchten haben.

Dies erklärt die begrenzte Begeisterung der US-Regierung über die Erfolge der Nordallianz. Denn um an die Strukturen der Al-Qaida-Führung zu gelangen, müssten die USA auch den Süden des Landes einschließlich der Taliban-Hochburg Kandahar kontrollieren. „Unser Ziel ist es, die Stämme im Süden dazu zu bringen, den Taliban Widerstand zu leisten, kommentierte Rumsfeld das militärische Vorrücken. „Sie waren bislang aber sehr ruhig.“