schicksalspiel gucken in berlin
: Um 20 Uhr ist niemand gern allein

Heute entscheidet sich, wer zur WM fährt: Deutsche und Ukrainer versammeln sich zum gemeinsamen Glotzen

Einer der beliebtesten Plätze, wo man dem urproletarischen Vergnügen Fußballgucken frönt, liegt im immer schicken Mitte: Das Vereinslokal des FC Magnet Mitte, Veteranenstraße 23. Die Hobbymannschaft aus dem Berliner Nachtleben projeziert nicht nur die Spiele per Videobeam großflächig an die Wand. Auf den orangen Seventiesbänken drängelt sich zudem sachkundiges Publikum. Einziges Problem: Das Schild „nur für Mitglieder“ kann man ignorieren, aber Che-Guevara-Double Lorenzo lässt oft nur Stammgäste ins völlig überfüllte Vereinsheim.

Nahen Ersatz bietet der „Kastanien Grill“, Kastanienallee 28. Hier flimmert nur ein winziger Bildschirm über der Tür, aber der Wirt Ismail Sari schenkt seinem deutsch-türkischen Publikum manchmal Kuchen.

Wer Wert legt auf gute Gesellschaft, sollte in der Biercompany in der Schwedter Straße 18 vorbeischauen. Dort treffen sich kultivierte junge Menschen zum konzentrierten Fussballkonsum. Kein Grölen, kein Quatschen. Das Interesse am Spiel hat Priorität und wird mit zwei Bildschirmen befriedigt.

Gleich auf drei Leinwänden wird das Spiel im Tränenpalast übertragen, Reichstagsufer 17. Der Eintritt ist frei. Die zentrale Leinwand misst 8 x 6 Meter, so dass 350 erwartete Besuchern keine Nickligkeit der deutschen Innenverteidigung übersehen werden. Wenn Schewtschenko und Co. trotzdem treffen, gilt für den ehemaligen deutsch-deutschen Grenzübergang vielleicht zum ersten Mal seit 1989 wieder: Nomen est omen.

Über deutsche Geschichte unterhält man sich in Kruse’s Sport’s Bar, Holtzmarktstraße 6-9, bestimmt eher selten. „Mach’n rein!“ oder „Hau’n um!“ sind typische Dialogbruchstücke dort. Nicht nur der Besitzer von „Kruse’s Sport’s Bar“ – Ex-Hertha-Käpitän Axel Kruse –, sondern auch sein Publikum pflegen einen sehr unverkrampften Umgang mit dem Apostroph, auch Auslassungszeichen genannt. Die Neigung zur Verdichtung beschränkt sich nicht nur auf die Sprache. In der Sportkneipe unter der Jannowitzbrücke gibt es Fußball pur: Störenden Schnickschnack wie Musik oder Gespräche braucht der Fan hier nicht fürchten, dafür gibt es drei Großbildschirme und neun normale Fernseher. Die 200 Sitzplätze sind bereits komplett ausgebucht. Wer spontan kommt, muss wohl am Tresen stehen.

Daher lohnt vielleicht eher der Besuch eines Kreuzberg-Klassikers: Wenn es gegen die Bayern geht, wird in der Weißen Taube, Wiener Straße, Ecke Lausitzer, kein Weißbier getrunken. In der charmanten Lokalität mit der leicht obszönen ultravioletten Beleuchtung im Fenster wird grundsätzlich allein die fußballerische Leistung, nicht jedoch die Zugehörigkeit zur Heimat honoriert. Dies mag der Grund dafür sein, dass Erörterungen auch in der Halbzeitpause stets auf elaboriertem Niveau geführt werden: etwa, ob die Grünen wohl einen Dioxinskandal arrangiert haben, um wieder ins Parlament zu kommen. Blaue Jeansjacken mit abgeschnittenen Ärmeln sind für den Einlass nicht unbedingt notwendig, aber hilfreich.

Ganz weit draußen ist es so uncool, dass es schon wieder cool ist: Bei Holst am Zoo, Joachimstaler Straße 1, kann man mit mindest 50-jährigen bierbäuchigen Fussballfans – also den echten – für Deutschland schreien. Auf insgesamt sieben Fernsehern geht es um unsere Ehre. 140 Plätze hat die laut Selbstauskunft, „urwüchsige Fußball-Kneipe“: deshalb unbedingt vorbestellen (Tel. 88 21 992)! Am Tresen wird heute abend wie immer der 80-jährige Wolfgang Holst stehen, von 1960 bis 1985 Präsident, Vizepräsident und Manager der Hertha. An den Wänden Fotos aus 95 Jahren Fußballgeschichte mit allen Großen wie dem Kaiser, „Uns Uwe“ und Netzer. Holsts Tipp für das Spiel heute abend: 1:1. Verlängerung. Und dann ist alles möglich.

Zurück in den Osten, nach Friedrichshain: Nirgendwo ist der Niedergang des großen deutschen Fußballs besser zu beobachten, als in der Kneipe Zum Saupreuß, Straßmannstraße 1, Ecke Richard-Sorge-Straße. Wo früher nur unsere Nationalelf bejubelt wurde, haben heute die puckjagenden Eisbären eine bedeutend enthusiastischere Fangemeinde. Die Eckkneipe sieht aus und riecht so, wie Eckkneipen eben aussehen und riechen. Ein Fernseher hängt direkt über dem Eingang, vom Tresen ist er gut einsehbar – samt sachkundiger Sprüche des Wirts, der eben doch noch eine Menge über Fußball weiß. Also, durchaus zu empfehlen. Bis Redaktionsschluss war ein Problem jedoch noch nicht behoben: Zur Zeit ist die Glotze kaputt. TAZ