„Es wird Fehlpässe geben“

Nicht nur von den deutschen Fußballern, sondern auch vom Publikum wird beim heutigen Endspiel gegen die Ukraine erwartet, dass sie alles tun, um einen kollektiven Sommerurlaub zu verhindern

aus Dortmund FRANK KETTERER

Genug der Worte gewechselt, genug der Phrasen gedroschen, viel zu viele Artikel darüber geschrieben. Heute Abend – Anpfiff um 20.30 Uhr im Dortmunder Westfalenstadion, Abpfiff noch vor Mitternacht – weiß die Nation endgültig und endlich, wie sie den nächsten Sommer verbringen darf: Per Urlaub in Griechenland, bei Ballermanns oder wo sonst auch immer – oder doch frühmorgens vor der Glotze kauernd und bibbernd, weil Deutschland gerade mal wieder von einem der Großen dieser Fußball-Welt an die Wand gespielt wird. Andererseits muss es ja gar nicht unbedingt so kommen. Findet jedenfalls Torhüter Oliver Kahn. „Wenn wir durch diese Situation durchkommen“, glaubt der einzige deutsche Weltklassespieler, „wird das der Mannschaft einen unglaublichen Schub geben.“ Was laut Kahn nur diese Folge haben kann: „Die Qualifikation für eine WM ist nervlich fast noch schwieriger als die WM selbst – also, was soll uns bei der WM dann noch passieren?“ Ganz nebenbei bemerkt: Wird nicht jene Mannschaft ganz am Ende Weltmeister, die am längsten im Turnier bleibt? Und hat es Deutschland nicht sogar schon im Qualifikationsturnier gerade weltrekordverdächtig lange geschafft, dabei zu bleiben?

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Doch noch mal zurück zum Sommerurlaub. Auf den, hat Dietmar Hamann gerade eben erst gesagt, würde er liebend gerne verzichten, was hier und jetzt ausdrücklich als besonders löblich vermerkt sei, weil es ja nicht unbedingt selbstverständlich ist, dass junge Menschen den ganzen lieben langen Sommer durchmalochen – und das auch noch im Ausland –, anstatt ein bisschen faul in der Sonne rumzuhängen. Die Nationalspieler, wohlgemerkt unsere Nationalspieler, sind da aus ganz anderem Holz geschnitzt. „Eine WM“, hat Hamann also gesagt, „ist das Größte, was man erreichen kann und was es zu gewinnen gibt.“ Bleibt nur die Frage: Warum bitte schön machen sie es dann nicht einfach?

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Einfach? Was heißt schon einfach? Es geht ja, das sollte nicht vergessen werden, immerhin gegen die Ukraine, mehrfacher Nicht-WM-Teilnehmer. Und überhaupt, das war im Kreis der Nationalmannschaft in den letzten Tagen der am meist dahergebetete Satz: Mit einem solchen Spiel kann man keinen Schönheitspreis gewinnen. Vielmehr: Es zählt einzig und alleine das Ergebnis. Also für die Deutschen ein 0:0 oder ein Sieg, egal wie hoch, noch egaler wie knapp. Das würde reichen, um nächsten Sommer auf den Urlaub verzichten zu müssen. Und was, wenn es auch nach den 90 Minuten im Dortmunder Westfalenstadion noch 1:1 steht wie im Hinspiel in Kiew? Dann gibt’s zweimal 15 Minuten Verlängerung und Golden Goal. Soll heißen: Wer in dieser halben Stunde als Erster ein Tor schießt, hat gewonnen – und keinen Sommerurlaub. Schießt keiner eins, wird die Sache vom Elfmeterpunkt ausgelost. Egal wie es kommen mag, das Publikum im mit 52.000 Menschen ausverkauften Westfalenstadion bittet DFB-Trainer Michael Skibbe schon im Vorfeld um Geduld und lauthalse Unterstützung: „Es wird Fehlpässe geben, Kontersituationen und vielleicht werden wir sogar in Rückstand geraten. Aber bis zum Schluss brauchen wir ausnahmslos Rückendeckung.“

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Golden Goal – war da nicht was? Richtig, da war was. Nämlich bei der Europameisterschaft 1996 in England, an der Deutschland teilnehmen und sogar ganz, ganz lange im Turnier bleiben durfte. Goldener Torschütze damals: Oliver Bierhoff. Deutscher Held: der gleiche. Und heute? Mal schnell einen Blick auf den Boulevard werfen. „Auslaufmodell“ steht im Kölner Express zu lesen, mehr noch gar in Bild, wo mal wieder der Kaiser firlefranzelt. „Seine Verdienste sind unumstritten“, lässt Franz B. also ghostwriten, was, wie bereits erahnt werden kann, nichts Gutes nach sich zieht: „Er sollte sich überlegen, ob er in der Nationalmannschaft weitermacht. Zurzeit kann ihn ein Trainer in Deutschland nicht bringen.“ Frage an DFB-Trainer Michael Skibbe: Wirklich nicht, Herr Skibbe? Antwort: „Bierhoff ist nach wie vor ein exzellenter Torjäger mit herausragender Stärke im Kopfballspiel. Genau er könnte es sein, der uns zur WM schießt oder köpft.“

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Also spielt Bierhoff heute Abend? Wohl doch eher nicht, zumindest nicht von Beginn an. Was aller Voraussicht nach auch für Sturmkollege Alexander Zickler und den im Hinspiel überforderten Gerald Asamoah zutrifft, an ihrer statt könnten der zuletzt gesperrte Oliver Neuville und der zuletzt verletzte Carsten Jancker ins Team rücken. Für Neuville wäre allerdings auch der Dortmunder Lars Ricken eine denkbare Alternative, der dann wohl über die rechte Seite käme, und Bernd Schneider, in Kiew bester deutscher Feldspieler, mehr in die Mitte rücken lassen würde. Letztendlich aber ist all dies natürlich pure Kaffeesatzleserei.

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Deshalb zurück zu den Tatsachen und mitten hinein ins letzte öffentliche Training der deutschen Mannschaft im Dortmunder Stadion Rote Erde: ein bisschen warmlaufen, ein bisschen Gymnastik, ein lockeres Spielchen elf gegen elf, das übrigens 0:0 endet. Alles geht seinen gewohnten Gang, so gewohnt, dass bei den gut über 100 Pressevertretern langsam, aber sicher Langeweile aufkommt. Was sollen sie auch noch berichten über das große Schicksalsspiel heute Abend? Es ist doch längst alles gesagt.