Kartenspiel bei VW do Brasil

Nach Kündigung von 3.000 Leuten tritt die Belegschaft von São Bernardo in den Streik. Betriebsrat fährt nach Wolfsburg. Vorwurf der Inkompetenz an Management

Bisher war die Verhandlungskultur zwischen Kapital und Arbeit beispielhaft

SÃO BERNARDO DO CAMPO taz ■ Im Morgengrauen ziehen Tausende vor die imposanten VW-Werkhallen in São Bernardo do Campo. Auf dem Parkplatz sammeln sich die Arbeiter zur wichtigsten Vollversammlung der vergangenen Wochen. Fahnen und Transparente werden entrollt, doch die Stimmung unter den 16.000 ist gedämpft. Kürzlich hat die Firmenleitung ihre Drohung wahrgemacht und 3.000 Kündigungsschreiben verschickt.

Die Industriestadt südöstlich von São Paulo galt lange Zeit als die Hochburg der brasilianischen Autoindustrie. Allein bei VW arbeiteten in den Siebzigerjahren bis zu 40.000 Beschäftigte. Sie bildeten auch den Kern der erstarkenden Gewerkschaftsbewegung und der undogmatischen Arbeiterpartei PT, die 1980 gegründet wurde. Seither ist die Belegschaft im Zug der technischen Modernisierung kontinuierlich geschrumpft. Doch zugleich entwickelte sich nach dem Vorbild des Mutterhauses eine Verhandlungskultur zwischen Unternehmensleitung und Metallern, die für Lateinamerika beispielhaft ist.

Seit 1987, als zu Beginn einer zeitweiligen Fusion mit Ford auf einen Schlag 5.000 Stellen gestrichen wurden, gab es keine Massenentlassungen mehr. In den Krisenjahren 1997/98 einigte man sich auf einen 15-prozentige Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich. Zugleich erreichte die Gewerkschaft, dass São Bernardo den Zuschlag für die Produktionsanlagen des neuen Polo erhielt. Damit waren 6.000 Arbeitsplätze gesichert.

Doch das reichte nicht. Im Gegensatz zu anderen VW-Werken in Brasilien hat São Bernardo nicht nur mit der jetzigen Wirtschaftsflaute zu kämpfen, die die Lagerbestände in Rekordhöhen treibt. „Die Produkte sind überaltet,“ schimpfte Gewerkschaftsboss Luiz Marinho am Montag auf der Vollversammlung, „den VW-Bus bauen wir seit 1959, den Golf seit 1980, den Santana seit 1984.“ Sein Fazit: „Das ist inkompetentes Management.“

VW-Firmenchef Herbert Demel fordert dagegen eine „neue Mentalität“ und „höhere Flexibilität“. In São Bernardo läge der Durchschnittslohn von umgerechnet 1.500 Mark drei Mal so hoch wie im neuen VW-Werk von Curitiba. Der Überhang von 4.000 Stellen könne nur mit einer 15-prozentigen Arbeitszeit- und Lohnkürzung aufgefangen werden. Zudem sollten jährlich sechs Prozent der Belegschaft „herausrotieren“ – bei einem um 30 Prozent reduzierten Einstiegslohn für die Neuen. “Wir sind bereit, über weitere Einkommenseinbußen zu verhandeln,“ sagt Luiz Marinho, der die Arbeiter „mit dem Rücken zur Wand“ sieht. „Doch diese Massenentlassungen sind grausam, unsozial und inakzeptabel.“ Da „Alleinherrscher Demel“ erklärt habe, er könne bestenfalls die Hälfte der Kündigungen zurücknehmen, will Marinho noch in dieser Woche nach Wolfsburg fahren, um mit Personalvorstand Peter Hartz zu verhandeln. Dafür holte er sich am Montag Rückendeckung bei der Basis. Die Versammlung endete kämpferisch: Per Akklamation beschloss die Belegschaft, in den Streik zu treten. Dann zogen die Arbeiter, von denen viele ihren Kündigungsbrief dabei hatten, in die Montagehallen, wo sie sich bis drei Uhr nachmittags die Zeit mit Domino- und Kartenspielen vertrieben. GERHARD DILGER