Wer ist wer in Afghanistan?

Wer sind die Taliban?

Der Begriff „Taliban“ bedeutet „Koranschüler“ und bezeichnet keineswegs eine homogene Gemeinschaft. Die Gruppe der Taliban ist vielmehr historisch erst in den frühen 90er-Jahren entstanden. Taliban nennen sich vor allem Afghanen, die ursprünglich als Flüchtlinge in Pakistan lebten und dort in Koranschulen ausgebildet wurden.

Die Taliban wurden erstmalig bekannt, als sie 1994 von der pakistanischen Regierung angeheuert wurden, um einen Lastwagenkonvoi vor anderen Mudschaheddin zu schützen. Sie erwarben sich schnell einen Ruf als gute Kämpfer und wurden von pakistanischen Militärkräften geschätzt. Die Taliban besetzten die afghanische Stadt Kandahar und eroberten 1996 Kabul.

Von der afghanischen Bevölkerung wurden die Taliban unterstützt – unter anderem auch deswegen, weil die meisten von ihnen der Volksgruppe der Paschtunen angehören, und die stellt im Land die Bevölkerungsmehrheit. Die Bevölkerung war von den tadschikischen und usbekischen Führern im Land enttäuscht worden. Die Taliban gewannen bald den Respekt der Menschen, da sie ein Ende von Korruption und Gesetzlosigkeit versprachen und sich nicht an den Rivalitäten der einzelnen warlords beteiligten. Zu Beginn wurden die Taliban auch aus Stabilitätsgesichtspunkten von den USA unterstützt.

Die Taliban versprachen eine neue Ordnung durch einen Gottesstaat, in dem islamisches Recht gelten sollte. Dabei wurde das öffentliche Leben jedoch strikt reglementiert: Fernsehen, Kino und Musikveranstaltungen wurden verboten. Mädchen durften nicht mehr zur Schule, Frauen nicht einer Erwerbsarbeit nachgehen. Öffentliche Hinrichtungen und Amputationen gehörten zur neuen Ordnung.

Die Taliban unter Führung von Mullah Omar sind nicht homogen: Den harten Kern bilden heute die rund 10.000 militäritärisch gut ausgebildeten „arabischen Afghanen“, freiwillige „Gotteskrieger“, die aus verschiedenen Nationen stammen und von Bin Laden während des Krieges gegen die Sowjetunion rekrutiert wurden. Im Gegensatz dazu sind die rund 45.000 Taliban, die meist in Koranschulen rekrutiert wurden und wie Dorfmilizen organisiert sind, sehr viel schlechter ausgebildet. Eine dritte Gruppe bilden tausende von Taliban-Anhängern, die den Paschtunen angehören und irgenwann mal von den Taliban angeworben wurden. In den Kämpfen mit der Nordallianz sind viele dieser Soldaten schon übergelaufen. BD

Wer sind die Paschtunen?

In Afghanistan leben schätzungsweise 25 Millionen Menschen. Man zählt etwa 20 Ethnien und 20 Sprachgruppen. Die größte Gruppe bilden mit rund acht Millionen Menschen die Paschtunen, die auch die Mehrheit der Anhängerschaft der Taliban darstellen.

Die Paschtunen sind vor allem in den Gebieten entlang der Grenze zu Pakistan konzentriert und gliedern sich noch mal in über 50 Stämme auf. Die Stammesführer besitzen eine eingeschränkte Macht, der Ältestenrat regelt innere Angelegenheiten.

Die ursprünglich nomadischen Paschtunen sind überwiegend sunnitische Muslime. Sie haben einen Ehrenkodex, den „Paschtunwali“, dessen wichtige Werte Ehre, Schande und Gastfreundschaft sind. Frauen sind dem Mann viel strenger untergeordnet, als es der Islam eigentlich vorsieht. Sie dürfen das Haus nur vollkommen verschleiert verlassen.

Die nächstgrößere Volksgruppe in Afghanistan bilden die Tadschiken mit einem Anteil von 25 Prozent, die Hasara mit 15 Prozent und die Usbeken mit rund sechs Prozent, alle drei gehören mehrheitlich zur Nordallianz. BD

Wer ist die Nordallianz?

Die militärisch erfolgreiche Nordallianz eint nur der gemeinsamen Feind: die Taliban. Die etwa 15.000 Kämpfer setzen sich hauptsächlich aus drei verschiedenen Volksgruppen zusammen: Tadschiken, Usbeken und Hasara. Dagegen sind die Taliban vor allem Paschtunen. Nach der Einnahme Kabuls fürchten westliche Experten, dass die Gruppen der Nordallianz sich wieder bekämpfen.

Das ist schon einmal passiert. Nach Ende der sowjetischen Besatzung 1989 und dem erfolgreichen Krieg gegen das Nachfolgeregime von Präsident Nadschibulla besetzten die Truppen der heutigen Nordallianz 1992 Kabul. Es folgten Folter, Morde und Vergewaltigungen. Durch monatelangen Beschuss legten die afghanischen Kämpfer Kabul in Schutt und Asche. Erst der Sieg der Taliban beendete das Chaos.

Der bekannteste Mann in der Allianz ist Usbekengeneral Abdul Raschid Dostam. Als Verteidigungsminister von Nadschibullah lief er zu den Mudschaheddin über und ermöglichte ihnen so die Einnahme Kabuls. Dostam (Foto) gilt als skupelloser Kriegsherr, der für seinen eigenen Vorteil häufig die Seiten wechselt. Zwischen 1992 und 1997 herrschte er unangefochten über Masar-i Scharif. Dostam stützt sich auf die usbekische Minderheit in Afghanistan, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmacht, und auf die Hilfe der Türkei.

Die Hasara sind Schiiten aus Zentralafghanistan. Wegen ihres Glaubens hatten sie besonders unter den Taliban zu leiden.

Die mächtigste Gruppe der Nordallianz stellen die Tadschiken. Auf etwa fünf Prozent der Landesfläche leisteten sie lange den Taliban Widerstand, bis der massive Einsatz der USA die militärischen Gewichte verschob. Ihr legendärer Kommandeur Ahmed Schah Massud wurde im September ermordet. Sein Nachfolger ist General Mohammed Fahim. Eine zweite tadschikische Gruppe wird vom Exilpräsidenten Burhanuddin Rabbani geführt. Ebenfalls Tadschike ist Ismail Khan (Foto), Exgouverneur von Herat und Mudschaheddin-Kommandant unter der Sowjet-Besatzung. In den momentanen Kämpfen spielt er keine große Rolle. Manchen Experten gilt er als kommender Mann, weil er seinen anders als andere warlords„Ruf nicht mit Blut besudelt hat“. Allerdings ist er Tadschike, was seine Aussichten schmälert. BPO

Wer könnte künftig regieren?

Da wäre einmal der ehemalige afghanische König Sahir Schah (Foto). Der Monarch hatte 1933 im Alter von 19 Jahren den Thron bestiegen. 1973 verließ er nach einem Putsch das Land. Heute lebt der 87-Jährige im Exil in Rom. Schah ist Paschtune, gehört also zur größten Ethnie in Afghanistan. Viel mehr als eine symbolische Rolle wird dem Greis jedoch kaum zugetraut. Die „sechs plus zwei“-Mächte, also die Nachbarstaaten Afghanistans, Russland und die USA, sind im Prinzip damit einverstanden, dass der Exkönig in einer neuen Regierung eine Rolle spielen soll – unklar ist nur, welche. Die Regierung des mächtigen Nachbarlandes Iran etwa scheint wenig erbaut von der Idee, einen neuen König vor die Haustüre gesetzt zu bekommen. Auch Russland sähe Schah lieber in einer zweitrangigen Rolle.

Ebenfalls als möglicher Regierungschef diskutiert wird Burhanuddin Rabbani (Foto unten), der Führer der Nordallianz. Er war Präsident Afghanistans zwischen dem Ende der sowjetischen Besatzung 1992 und der Machtergreifung der Taliban 1996. Der 61-Jährige wird von der UNO immer noch als Staatschef angesehen. Rabbani ist gemäßigter Sunnit, in Kabul und Kairo ausgebildeter Religionslehrer und Chef der antikommunistischen Islamischen Gesellschaft. Obwohl erbitterter Gegner der Taliban, herrscht in der von ihm dominierten Region ein ähnlich harsches Regime. Zudem zeigte Rabbani sich während seiner Präsidentschaft als blutiger Kriegsherr, der mit dazu beitrug, im Bürgerkrieg gegen die Taliban die Hauptstadt Kabul in Schutt und Asche zu legen.

Gegen ihn als neuen Regierungschef spricht auch, dass er sein Präsidentenamt nur deshalb bis 1996 innehatte, weil er eine Abmachung mit anderen machthabenden Mudschaheddin-Gruppen brach, nach der er 1994 hätte zurücktreten müssen. Gegen ihn spricht auch, dass er Tadschike ist und damit nur der zweitgrößten Volksgruppe in Afghanistan angehört.

Ein guter Tipp könnte daher Hamid Karsai sein. Der mächtige paschtunische Stammesführer stammt aus Kandahar, der südafghanischen Stadt, die auch die Hochburg der Taliban ist. Karsai gehört demselben Klan an wie der ehemalige König Sahir Schah, zu dem er nach wie vor Kontakt hält. Karsai gilt als gebildet. Er spricht fließend Englisch und war Außenminister unter den Mudschaheddin 1992. Sein Vater, ehemals ebenfalls Abgeordneter, wurde vor zwei Jahren ermordet, angeblich von Taliban. Seit Oktober hält sich Hamid Karsai wieder in Afghanistan auf, wo er sich an der Regierungsbildung beteiligen will. Zuvor lebte er in der pakistanischen Grenzstadt Quetta. Dort soll er nach dem 11. September eine Delegation talibanfeindlicher Stammesführer empfangen haben. Karsai wäre Anfang November fast in Gefangenschaft seiner Feinde geraten: Talibantruppen entdeckten sein Versteck und stürmten es. Doch er konnte fliehen. KK

Was bewirkt die Geografie?

Mit Ausnahme der trockenen Steppe im Südwesten um Kandahar besteht Afghanistan großteils aus Gebirge: Dem Hindukusch, der mit Karakorum und Himalaya das mächtigste Gebirge der Welt bildet. Die höchsten Berge sind bis zu 4.000 Meter hoch, die Häfte des Landes liegt 2.000 Meter oder mehr über dem Meeresspiegel. Trockenheit macht große Teile des Landes unbewohnbar. Wer in den Bergen kämpft, muss neben Proviant und Waffen vor allem Wasser tragen. Der Hindukusch wird häufig von Erdbeben erschüttert, moderne Kommunikation ist wegen der hohen Berge und tiefen Schluchten schwer. Eine Versorgung per Hubschrauber ist in den Bergen oft unmöglich: Der Nebel in den Schluchten ist so dicht, dass sie nicht fliegen können. „Als Kampfgebiet ist die Region ein absoluter Albtraum“, sagt Tom Carew, ehemaliger britischer Ausbilder der Mudschaheddin. BPO

Was droht durch den Winter?

In den Bergen Afghanistans hat der Winter bereits vor zwei Monaten begonnen. „Es fängt mit Regen an, dann friert es, dann kommt der Schnee“, sagt Afghanistan-Experte Tom Carew. „Mitte Oktober reicht der Schnee einem Mann schon bis zum Hals.“ Die Temperatur fällt auf bis zu minus 20 Grad Celsius. Mit 20 Schneepflügen will deshalb nun das UN-Welternährungsprogramm die Pässe im Pandschir-Tal nordöstlich von Kabul vom Schnee befreien. Über die geräumten Straßen sollen dann Lebensmittel und andere Hilfsmittel für die Not leidende Bevölkerung ins Land gebracht werden. Im zentralen Hochland, im Pandschir-Tal und in der nordöstlichen Provinz Badachschan sollen tief fliegende Flugzeuge aus 250 Metern Höhe Nahrungsmittel ohne Fallschirm abwerfen, um die Menschen zu versorgen. Insgesamt etwa 700.000 Menschen sind dort durch die Schneemassen von jeder anderen Hilfe abgeschnitten. BPO