„UNO sollte nicht wie im Kosovo agieren“

Der Afghanistan-Kenner Jochen Hippler ist skeptisch, was die politische Entwicklung der Nach-Taliban-Ära angeht

taz: Ist der Abzug der Taliban aus Kabul die kriegsentscheidende Wende?

Jochen Hippler: Wir wissen das nicht, weil wir überhaupt keine Informationen haben, in welchem Kontext die Räumung Kabuls durch die Taliban erfolgt ist. Wir wissen nicht, ob die Taliban in Auflösung begriffen sind, ob sie sich nur auf ihre Siedlungsgebiete im Süden zurückziehen wollen, ob es eine stärkere Fragmentierung innerhalb der Taliban gibt und wie sich die Nordallianz in Kabul aufführen wird. Wenn die Taliban sich nur umgruppieren für einen Guerillakrieg gegen die Nordallianz oder von außen kommende Soldaten, dann könnte sich der Krieg noch Jahre oder gar Jahrzehnte in die Länge ziehen. Das zu beurteilen ist aber jetzt noch nicht möglich.

Vor dem Hintergrund dessen, was wir zurzeit wissen: Wie bewerten Sie die Einnahme Kabuls?

Es ist ein entscheidender symbolischer Akt im Kriegsverlauf. Wichtig ist, dass Kabul nicht verteidigt, sondern geräumt worden ist. Das erinnert an ähnliche Entwicklungen 1996, als die heutigen Parteien der Nordallianz beim Vormarsch der Taliban ebenfalls Städte geräumt haben. Zwar existiert Afghanistan kaum als Staat, aber der Verlust der Millionenstadt Kabul als Hauptstadt ist eine wichtige moralische Niederlage für die Taliban.

Die US-Regierung setzt in ihrer Strategie weiter auf Aufstände der Paschtunen in den von den Taliban kontrollierten südlichen Gebieten. Wie realistisch ist das?

Volksaufstände halte ich für nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich ist, wie es in den meisten afghanischen Kriegen passiert ist, dass einzelne Kommandanten, Stammesführer oder Warlords abzuwerben, zu kaufen oder anderweitig zum Überlaufen zu bewegen sind. Die Taliban waren offenbar in den großen Städten inzwischen sehr unbeliebt, aber auf dem Land halte ich ein Überlaufen aus opportunistischen Gründen oder aus Geldgier für wahrscheinlicher. Die Frage ist, wie will man mit solchen Leuten ein Land politisch und sozial aufbauen? Wie will man die Gesellschaft wieder integrieren und erreichen, dass der politische Prozess nicht von Leuten, die ständig Menschenrechte verletzen, oder von käuflichen Opportunisten dominiert wird?

Wie groß ist die Gefahr, dass die Taliban sich nach Pakistan zurückziehen?

Dass sie sich als geschlossene Formation zurückziehen, ist relativ unwahrscheinlich, weil die Taliban ja auch eher ein Sammelsurium verschiedener Gruppen sind. Andererseits hat es aber im Grenzgebiet auf der pakistanischen Seite in den letzten Jahren eine zunehmende Unterstützung für die Taliban innerhalb der paschtunischen Bevölkerung gegeben, genauso wie in der islamistischen Partei JUI und – soweit wir das wissen – von Teilen des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI. Die Gefahr eines Einsickerns und einer gewissen Stärkung von Pro-Taliban-Tendenzen in Pakistan ist beträchtlich, dieser Prozess ist ja auch schon seit einigen Jahren im Gange.

Warum macht die internationale Gemeinschaft bei der Ausarbeitung einer politischen Lösung bisher keine Fortschritte?

Es gibt zwei Hauptprobleme: Nach der militärischen Logik gibt es die Luftwaffe der USA und Großbritanniens, die mit den Bodentruppen der Nordallianz Krieg gegen die Taliban führen. Wenn man diese Konstellation akzeptiert, macht man sich natürlich von der Nordallianz abhängig als einzig relevante Organisation vor Ort. Die zweite Problematik ist, dass in Afghanistan viele potenzielle Strömungen vor Ort nicht mehr präsent, sondern im Exil sind – also nicht nur der König, sondern auch viele Liberale, Sozialdemokraten oder sonstwie aufgeklärte Leute. Bisher ist es aber nicht gelungen, neben der Nordallianz Gruppen zu finden, mit denen für eine politische Nachkriegslösung kooperiert werden kann. So fehlen vor Ort schlicht Kooperationspartner.

Ist damit das Bekenntnis zu einer multiethnischen Nachfolgeregierung ein Lippenbekenntnis?

Es ist im Prinzip ein richtiges Bekenntnis. Dafür müsste die afghanische Gesellschaft aber erst durch eine Phase der Reintegration gehen. Die Trümmer der Gesellschaft müssen erst mal wieder zusammenfinden und gemeinsame Interessen definieren. Die Unterstützung von außen für einzelne Warlords und Milizen durch Länder wie Pakistan, Iran, Usbekistan, Saudi-Arabien und die USA müsste erst einmal ausgetrocknet werden. Die Gefahr besteht, dass der Krieg durch äußere Einmischung und Schaffung von Anreizen wieder weiter in die Länge gezogen wird. Die Gefahr ist auch, dass, wenn die zerbrechliche Nordallianz den Krieg gewinnt, dies zu einem Krieg untereinander führt, der dann wieder den Taliban nützt. Bisher eint die Nordallianz doch nur der gemeinsame Feind.

Was sollte die UNO jetzt machen?

Sie sollte sich stark auf die humanitäre Hilfe konzentrieren. Da sind die Möglichkeiten durch die militärische Entwicklung jetzt wirklich besser. Ich würde die UNO aber davor warnen, jetzt in einem Ansatz ähnlich wie im Kosovo zu versuchen, das Land selbst zu verwalten. Da ist die Gefahr sehr groß, zwischen die Fronten der Nordallianz und der Stämme und anderen Akteuren zu geraten und dann die Erfahrung der Sowjetunion zu wiederholen. Damit könnte die UNO wirklich diskreditiert werden. Der Sonderbeauftragte Brahimi scheint das ja auch vermeiden zu wollen, während George W. Bush, der bisher ja kein Freund der UNO war, sich hier großzügig zeigt, um Risiken von den USA auf die UNO abzuwälzen.

INTERVIEW: SVEN HANSEN