Taliban ziehen sich aus den Städten zurück

Die Opposition ist auf dem Vormarsch und könnte bald auch Kandahar einnehmen. US-Präsident Bush ist „sehr zufrieden“. Die USA wollen im Süden Spezialeinheiten einsetzen – und suchen dort Verbündete unter den Paschtunen

„Ihr müsst euch neu gruppieren, Widerstand leisten und kämpfen“

BERLIN taz ■ Nach der Einnahme Kabuls durch die Nordallianz sieht die Taliban-Miliz sich offenbar auch in ihrer Hochburg Kandahar militärischem Druck ausgesetzt. Nach Angaben eines Nordallianz-Sprechers ist der 30 Kilometer südlich der Stadt gelegene Flughafen nicht mehr unter der Kontrolle der Taliban. Die russische Nachrichtenagentur Novosti meldete sogar, Anhänger des afghanischen Exkönigs hätten die Stadt eingenommen. Nordallianz und eine iranische Nachrichtenagentur melden auch die Einnahme der zwischen Kabul und der pakistanischen Grenze gelegenen Stadt Jalalabad. Über den Verbleib des bislang in Kandahar residierenden Taliban-Führers Mohammed Omar gibt es widersprüchliche Berichte. Russische Quellen meldeten gestern, Omar habe sich nach Pakistan abgesetzt. Nach Angaben eines Nordallianz-Sprechers in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe befand sich Kandahar gestern noch unter der Kontrolle der Taliban.

Ein militärischer Erfolg in Kandahar wäre besonders bedeutsam, weil die Vertreter der Volksgruppen im Süden Afghanistans die Taliban bislang unterstützt haben.

US-Präsident Bush zeigte sich gestern „sehr zufrieden“ mit der Entwicklung. Einerseits hofft die US-Regierung darauf, dass die militärischen Erfolge der Nordallianz auch paschtunische Gruppen im Süden des Landes ermutigen werden, gegen die Taliban vorzugehen. Andererseits fürchten Planer in Washington auch, dass Racheakte der mehrheitlich von Usbeken und Tadschiken dominierten Nordallianz die Paschtunen im Süden eher zu einer engeren Anbindung an die Taliban führen werden. Obwohl die meisten Taliban-Truppen sich weitgehend vor der Ankunft der Nordallianz aus den umkämpften Städten zurückgezogen haben, gab es bereits Berichte über Massenhinrichtungen und Gewaltakte sowohl aus Kabul als auch aus dem bereits letzte Woche eroberten Masar-i Scharif im Norden.

US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sieht im Rückzug der Taliban eine Bestätigung der militärischen Strategie der USA. „Im Großen und Ganzen läuft es gut“, kommentierte er gestern den Rückzug der Taliban und das Vorrücken der Nordallianz. Dennoch ist es kein Geheimnis, dass die US-Regierung befürchtet, dass die Nordallianz sich bald schon ähnlich unbeliebt machen wird wie zur Zeit ihrer Herrschaft von 1992 bis 1996. Berichte über Morde und Folter aus den neu eingenommenen Gebieten verringern die Chancen der USA, militärische Verbündete im Süden des Landes zu gewinnen. Mit der Nordallianz als Verbündetem konnten sich die USA bislang weitgehend auf Luftangriffe beschränken, eigene Bodentruppen wurden nur in sehr kleiner Zahl eingesetzt.

Unklar ist, ob sich die Taliban auch aus taktischen Gründen aus den Städten zurückgezogen haben. Die New York Times zitiert einen pakistanischen Geheimdienstoffizier, der behauptet, dass die Taliban-Führung den Befehl zum Rückzug aus den Städten gegeben hätte. „Unsere Stärke liegt im Bodenkampf“, soll Taliban-Führer Mohammed Omar gesagt haben: „Diese Stärke wird deutlicher, wenn wir die Städte verlassen und in die Berge ziehen.“ Die Taliban-nahe Presseagentur AIP meldete gestern, Omar habe seinen Anhängern befohlen, weiter zu kämpfen. „Ihr müsst euch neu gruppieren, Widerstand leisten und kämpfen“, wird der Taliban-Führer zitiert. Offenbar hofft Omar darauf, dass die USA und ihre Verbündeten, wie in den 80er-Jahren die sowjetische Armee, nur die Städte besetzen, das ganze Land aber nicht unter ihre Kontrolle bringen können.

US-Außenminister Colin Powell, der innerhalb der Bush-Regierung lange gegen einen Sturz des Taliban-Regimes war, zeigte nur verhaltene Freude über die Übernahme Kabuls durch die Nordallianz. „Wir haben noch nicht den Sturz der Taliban im Süden gesehen“, sagte Powell in einem Zeitungsinterview.

Offenbar fürchtet der Außenminister und ehemalige US-Generalstabschef, dass sich die US-Streitkräfte jetzt stärker am Bodenkampf beteiligen müssen: Powell: „Es könnte notwendig werden, dort unten militärischen Druck auszuüben.“

Sollte die Strategie der USA scheitern, die paschtunischen Warlords im Süden für einen Kampf gegen die Taliban zu gewinnen, werden die USA wohl öfter Spezialeinheiten im Süden des Landes einsetzen. US-Medienberichten zufolge sind auch im Süden Afghanistans schon jetzt Spezialeinheiten der USA im Einsatz. Noch sei die Anzahl der eingesetzten Soldaten aber gering. Glaubt man den Berichten, besteht ihre Hauptaufgabe derzeit noch darin, mögliche Routen für Waffenlieferungen an Oppositionelle zu organisieren. Finden sich die erhofften Verbündeten nicht, werden die US-Einheiten wohl in den Kampfeinsatz geschickt.

ERIC CHAUVISTRÉ

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