Freude und Sorge in Kabul

Nach dem Abzug der Taliban genießen die Menschen ihre neue Freiheit. Die ersten Minister der Nordallianz treffen ein

von BEATE SEEL

Mit Freude und Erleichterung reagierten zahlreiche Einwohner Kabuls gestern Morgen auf das Einrücken der Kämpfer der oppositionellen Nordallianz. Zuvor hatten die Taliban die afghanische Hauptstadt im Schutze der Nacht verlassen. Laut Agenturmeldungen tanzten Menschen unter Rufen wie „Wir sind frei“ auf den Straßen, einige gaben Freudenschüsse ab, andere tauschten in Gruppen an Straßenecken Informationen aus. Viele Männer rasierten sich schleunigst die Bärte ab und hängten die schwarzen Turbane, Erkennungszeichen der Taliban, vor dem Hauptquartier der Polizei in den Wind. Doch zahlreiche Frauen, aus leidvoller Erfahrung vorsichtiger, hüllten sich weiter in den Körperschleier. „Erst einmal lassen wir die Burka an“, sagte Mariam Dschan gegenüber AP, „wir wissen noch nicht, was das für Leute in der Stadt sind.“

Der plötzliche Zusammenbruch der Talibanherrschaft über Kabul hat den Hauptstädtern neue Freiheiten eröffnet. Radio Kabul schickte nach einem Bericht von AFP zum ersten Mal seit fünf Jahren Musik über den Äther. In der ganzen Stadt drehten die Menschen ihre Transistorradios auf und hörten erstaunt, wie die Moderatorin Dschamila Mudschahid die Nachrichten verlas – bei den Taliban wäre dies undenkbar gewesen. „Ihr könnt nun diesen großen Sieg feiern“, waren die ersten Worte, die Mudschahid ins Mikrofon sprach.

Einige hundert Bewohner Kabuls zeigten nicht nur Freude, sondern auch Rachegedanken. Unter Parolen wie „Tod den Taliban“ und „Tod für Pakistan“ versammelten sie sich in der Innenstadt.

Kämpfer der Nordallianz zogen nach übereinstimmenden Berichten von Haus zu Haus, um versprengte Taliban zu suchen. Mehrere Reporter berichteten von Leichen in den Straßen. Eine BBC-Korrespondentin sah auch einen Lastwagen voller Gefangener, der die Stadt verließ.

Außerdem kam es zu Plünderungen. Laut BBC waren tausende von Menschen vor dem Lager einer Hilfsorganisation zu sehen, die Zelte, Nahrungsmittel und Decken in Taxis und auf Fahrrädern wegschafften. UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson bestätigte, dass Hilfslieferungen der Vereinten Nationen geraubt worden seien.

Geldwechsler auf dem Devisenmarkt sprachen gegenüber AFP von Millionen geraubter Dollars. Ob die Plünderer Angehörige der Taliban oder der Nordallianz waren, blieb zunächst unklar. „Sogar unsere Computer, Teppiche und Teekannen sind weg. Das ist ein Verbrechen gegen Afghanistan“, sagte Amin Dschan Chosti, Chef der Geldwechselagentur Schara-i Schasada. Alle 80 Wechselgeschäfte seien geplündert worden, die Diebe hätten das Geld mit Lastwagen abtransportiert. Ein anderer Geldwechsler wies darauf hin, dass viele Einwohner Kabuls nun ihre Ersparnisse verloren hätten: „Der Markt war eine Art inoffizielle Bank. Die Leute haben ihr Geld bei uns angelegt, weil sie den staatlichen Banken nicht vertrauen.“ Einem Bericht von AP zufolge handelte es sich bei den Plünderern um Taliban.

Angesichts des Sicherheitsvakuums in der Stadt äußerten sich einige Bewohner der Stadt auch besorgt über die Zukunft. Hinzu kommt, dass es nach dem ersten Einzug der Nordallianz in Kabul im Jahre 1992 zu schweren Kämpfen kam und weite Teile der Stadt zerstört wurden. Der neuerliche Einmarsch der Nordallianz – mit militärischer Unterstützung durch die US-Luftwaffe – ist der sechste dramatische Machtwechsel in den letzten 18 Jahren. Doch wer tatsächlich auf absehbare Zeit die Macht ausüben wird, steht derzeit noch nicht fest.

Wohl, um ein Zeichen zu setzen und ihren Anspruch zu bekräftigen, trafen gestern bereits Verteidigungsminister Mohammed Fahim und Außenminister Abdullah Abdullah in Kabul ein, begleitet von hunderten von Kämpfern und Militärpolizei der Nordallianz, wie Augenzeugen gegenüber Reuters berichteten. Ein Kommandeur der Nordallianz kündigte gestern an, dass er angesichts der Sicherheitslage mit seinen Soldaten in die Hauptstadt einmarschieren werde. Einzelne Kämpfer sagten, sie hätten bereits Regierungsgebäude besetzt. Eine Gruppe von Kommandeuren hatte jedoch zuvor bekräftigt, nicht in die Stadt einmarschieren und zunächst außerhalb Kabuls abwarten zu wollen. Die USA hatten die Nordallianz aufgefordert, die Stadt erst einzunehmen, wenn eine politische Lösung für das Land gefunden ist. BBC-Reporter berichteten, nur kleine Einheiten von Kämpfern seien in die Stadt eingerückt und hätten Kontrollposten errichteten. Bewaffnete Trupps, verstärkt von Panzern und Panzerfahrzeugen, stünden an den Toren Kabuls, um die Masse der Kämpfer am Einmarsch in die Stadt zu hindern.