Taliban ziehen sich zurück

Nach der Hauptstadt geben Taliban weitere Städte auf. Nordallianz verkündet, Taliban-Hochburg Kandahar erobert zu haben

von BERNHARD IMHASLY

Am Mittwoch herrschte in Kabul eine nervöse Ruhe. Dies hatte nicht nur mit dem latenten Misstrauen zwischen den neuen Machthabern und der Bevölkerung zu tun. Burhanuddin Rabbani, der frühere Präsident und Chef der Nordallianz, traf nicht in der Hauptstadt ein, und dies erhöhte die Spannung.

Dabei geht die Flucht der Taliban weiter: Der arabische Fernsehsender al-Dschasira und der afghanische (Nordallianz-)Botschafter in Tadschikistan meldeten gestern, auch Kandahar, das Herzstück der Taliban im Süden des Landes, sei von der Nordallianz eingenommen worden. Die Berichte konnten jedoch zunächst nicht bestätigt werden. Nach Angaben der in Pakistan ansässigen Nachrichtenagentur AIP kontrollieren die Taliban nur noch sieben von insgesamt 29 Provinzen des Landes.

In Jalalabad, dem wichtigsten Ausfalltor nach Pakistan, sollen die Taliban die Macht an den paschtunischen Mudschaheddin-Kommandanten Junis Chalis übergeben haben. Dieser habe die Nordallianz vor einem weiteren Vormarsch gewarnt. In Kunduz im Norden des Landes sind annähernd 20.000 Taliban-Truppen eingekesselt.

Das Tal von Bamiyan in zentralen Hazarajat wurde von den Kämpfern von Karim Khalili besetzt, womit nach der Mehrheit des Nordens und Westens des Landes nun auch der gesamte Südabhang des Hindukusch von der Nordallianz zumindest großräumig kontrolliert wird. Journalisten, die die Hazara-Truppen nach Bamiyan begleiteten, berichten, dass die Taliban nach der Zerstörung der beiden riesigen Buddhastatuen vor ihrem Abzug auch die Stadt Bamiyan dem Erdboden gleichgemacht hatten. Hunderte von Hazaras sollen erschossen und in Massengräbern verscharrt worden sein.

Die Ruhe in der Hauptstadt ist eine Chance für die Diplomatie, die Distanz zwischen militärischer Realität und politischer Lösung zu verkürzen; und deren Fragilität schafft den nötigen Druck, die zahlreichen Interessen und Akteure rascher als bisher unter ein gemeinsames politisches Dach zu bringen. Das Fehlen eines lokalen Lösungsansatzes von Seiten der verschiedenen ethnischen und politischen Gruppen hat die UNO bewogen, aus ihrer bisherigen Reserve herauszutreten. Der Afghanistan-Beauftragte, der ehemalige algerische Diplomat Lakhdar Brahimi, erhielt vom Generalsekretär den Auftrag, „die Nordallianz und die anderen beteiligten Gruppen möglichst rasch an den Verhandlungstisch zu bringen“.

Die bisher siegreiche Allianz hat sich bereit erklärt, mit allen anderen Kräften – ausgenommen den Taliban – über eine Machtteilung zu diskutieren. Auch in Pakistan beginnt man sich auf das Ende der Taliban einzustellen. In Islamabad und Peschawar kam es gestern zu einer Reihe von Zusammenkünften zwischen Paschtunenführern, die nun gezwungen sind, ihre Differenzen beiseite zu legen. Die Regierung, deren Afghanistanpolitik nun endgültig in Scherben liegt, unterstützt jede Regelung, die sich anbietet.

Für die vielen Afghanen, die fernab der Städte und großen Straßen nur über das Radio mit der Außenwelt verbunden sind, kam der Schock über den Fall der Hauptstadt nicht nur mit der Nachricht. Er war auch hörbar. Erstmals nach fünf Jahren war es eine weibliche Stimme, die über den Äther zu ihnen drang und vom Einmarsch der Nordallianz in die Hauptstadt berichtete.

Mit dem Fall von Kabul fiel nicht nur eine strategisch wichtige Stadt in die Hände der Taliban-Gegner. Denn Kabul ist die einzig all-afghanische Stadt, und ihr Fall hat vor allem symbolische – und damit politische – Bedeutung. Nachdem sie vor 250 Jahren zur Hauptstadt erklärt wurde, entwickelte Kabul eine urbane Kultur, die von allen afghanischen Gruppen getragen wurde. Sie ist politisch beherrscht von den Paschtunen. Die Regierungsbürokratie und Intelligentsia sind mehrheitlich tadschikisch. Am Leben erhalten wird sie durch die Arbeiterklasse der mongolischstämmigen Hazaras. Alle verbindet die Verkehrssprache Dari, der persische Dialekt der Westafghanen. Es ist die einzige Stadt, die allen Afghanen gehört. Die politische Kontrolle über Kabul bedeutet daher mehr, als die Größe der Stadt mit rund 700.000 Bewohnern – halb so viele wie vor dem Krieg –, Verkehrslage und die Fruchtbarkeit des Talkessels signalisieren.