helmut höge
: Der Weisheit letzter Schnellschluss

Normalzeit
Dem Querulanten neuen Typs bringt es in seinen Briefen nicht mehr zur herkömmlichen linguistischen Impertinenz. Er greift daher zum weißen Pulver

Die fälschlicherweise als Trittbrettfahrer bezeichneten Anthraxsteller werden von Querulantenexperten (zum Beispiel von S. im Bezirksamt P.) eher als neue Eskalationsstufe eines allgemeinen Briefterrors begriffen, deren letzte (Spaßguerilla-)Variante die so genannten „Pink Letter Parties“ der Neuen Ökonomie waren.

Bei diesem Fourletterword handelt es sich um massenhafte Kündigungsschreiben für Mitarbeiter der E-Commerce-Branche. Außerhalb der USA wurde jedoch eher Widerstand als Frohsinn gepredigt: Das Spektrum reichte dabei von der Kanak Atak über die Attac-Bewegung bis zum Angriff auf das World-Trade-Center und seine Counter-Attacke in Afghanistan.

Was wiederum für einige rechte weiße Gruppen in Amerika das Signal war, mit Anthraxpulver in Briefen das US-Establishment zu attackieren.

Diese Aktionsform wurde sogleich auch als Fake populär, das heißt, immer mehr Leute verschickten Briefe mit weißem Pulver an andere Leute beziehungsweise an Very Important Persons, um sie symbolisch umzubringen.

Mir war schon vorher – in meiner Zeit als taz-Aushilfshausmeister – das morgendliche Briefeeinsortieren als der gefährlichste Teil meines Jobs vorgekommen.

Neulich schickten zwei Praxishelferinnen einer süddeutschen Zahnarztklinik ein Anthraxbriefchen an ihren Chef: Sie bekamen fünf Monate auf Bewährung. „Da muss also die Kommunikation zwischen denen wirklich im Arsch gewesen sein, dass die beiden Frauen so etwas getan haben – und dass ihr Chef damit sogleich zur Polizei gelaufen ist . . .“, meint der Querulantenexperte S., der im Übrigen die „Selbstverbrennung“ für die konsequenteste Form von Querulantentum hält.

In der Regel gehen die Angriffe der vom Staat sich ungerecht behandelt fühlenden Widerständler nicht so weit. Es bleibt meist beim Briefverkehr, der – wenn auch mit Beschimpfungen gespickt – in eine sachliche Auseinandersetzung vor Gericht mündet, wo dann das Querulantentum nur noch insoweit zum Tragen kommt, als von ihnen in jedem Fall der Instanzenweg ausgeschöpft wird – bis zum Gehtnichtmehr beziehungsweise Get-No, wie man in der (produktivistischen) DDR sagte. Doch fallen die einen wie die anderen Schriftsätze durch ihre Länge und linguistische Impertinenz auf.

Letzteres bringt der (konsumistische) Querulant neuen Typs heute kaum noch auf. Deswegen ist der Anthraxbrief an tyrannische Vorgesetzte, Hauseigentümer, Behörden, Regierungen etc. – eingebettet in eine wachsende öffentliche Hysterie und Sicherheitsmacke – quasi der Weisheit letzter Schnellschluss.

Wir erinnern nur an jene Berliner Callcenter-Betreiber, die erst auf einen Forderungsbrief ihrer Mitarbeiter – einen Betriebsrat zuzulassen – eingingen und dann den Briefschreibern fristlos kündigten. Sowie auch an jenes Berliner Callcenter, das seinen Mitarbeitern den Lohn schuldig blieb, und wo die Geschäftsführung sich dann damit entschuldigte, dass die Firma irgendwelchen Amerikanern gehöre, sie könnten da gar nichts tun.

Wo die Architektur die Soziologie, der Urbanismus die Sozialpartnerschaft und die Kunst beziehungsweise die KSK den Klassenkampf ersetzt, da darf es nicht verwundern, dass viele Anthraxattacken Kunstaktionen sind (zuletzt in Neumünster) beziehungsweise trotz umfassendem „Milzbrandalarm im Supermarkt“ nicht als Kunst anerkannt werden – wenn sogar erste „Anthraxtests“ positiv ausfallen. Dabei gibt es inzwischen schon Anthrax-Kunst, bei der die Empfänger (früher Kunstbetrachter, jetzt Artvictims genannt) real erkranken – obwohl die Künstler nur Backpulver verwendeten.

Das ist der Einfluss des internationalen Schamanismus auf die postmoderne Kunst, bei dem selbst hartnäckige Kritiker nicht mehr so weit gehen zu behaupten, dass seine Gebete im Quadrat ihrer Entfernung abnehmen. Gleiches gilt für die (schamanistischen) Flüche.

Und auch bei den zum Teil hochdekorativ angelegten Schriftsätzen der Querulanten, die erst mit dem modernen Rechtsstaat aufkamen, haben wir es noch mit reiner Papiermagie zu tun – im Guten wie im Bösen: Einerseits nerven und beunruhigen sie die Adressaten und andererseits schaffen es die Querulanten damit, wie eine Forschungsgruppe der Uni Bremen herausfand, über 80 Prozent aller höchstrichterlichen Entscheidungen zu erwirken – also den Rechtsstaat beziehungsweise eine unklare Rechtslage wirklich zu verbessern.

So gesehen ist jeder Penner auch ein Schläfer!, wie gerade der Netzeitungs-Redakteur Perikles Monioudis anlässlich einer Amerikareise mutmaßte.