Der König der Herzen

Nach dem 4:1 gegen die Ukraine und der damit erreichten Teilnahme an der Fußball-WM 2002 scheint Rudi Völler trotz leichter Verbitterung wieder eine Zukunft als Teamchef zu haben

aus Dortmund FRANK KETTERER

Thomas Linke war der Erste. Irgendwo in der Mitte des Platzes stand er postiert, als Schiedsrichter Vitor Melo Pereira aus Portugal das Spiel abpfiff, und er riss die Arme in die Höhe. Nicht lauthals jubelnd, wie das Fußballer sonst so tun, wenn sie ein wichtiges Spiel gewonnen haben, sondern eher still triumphierend. Dem Münchner Verteidiger gleich taten es die Sportkameraden Ramelow, Nowotny, Ziege und Hamann – und nicht lange dauerte es, da stand die ganze deutsche Fußballmannschaft im Mittelkreis des Dortmunder Westfalenstadions versammelt und freute sich darüber, dass sie nun, nach diesem nur schwer für möglich gehaltenen 4:1-Sieg über die Ukraine im zweiten Relegationsspiel, doch mitkicken darf nächsten Sommer, wenn in Japan und Südkorea der Weltmeistertitel ausgespielt wird.

Und dann tauchte plötzlich auch Rudi Völler inmitten der Seinen auf dem Rasen auf, den Körper gehüllt in einen schwarzen Mantel, der grau-weiße Schopf im Scheinwerferlicht glänzend, begleitet von den Dankes-Chorälen der Fans. Es braucht ja nur vier Buchstaben, um diesem Mann zu huldigen – und so legten sich die langezogenen Ruuuudi-Rufe ein letztes Mal dunkel und doch freundlich über den vor Euphorie beinahe überkochenden Hexenkessel von Westfalenstadion. Kein Zweifel: Dieser Rudi Völler, Teamchef der Nationalmannschaft, war hier und jetzt, in diesem für den deutschen Fußball nicht ganz unwichtigen Augenblick, der König der Herzen. Und auch er genoss es eher still und leise.

Eine gute halbe Stunde später, im zum Bersten gefüllten Presseraum, sah der Teamchef ohnehin nicht die Zeit gekommen, das gerade Erlebte zu euphorisieren. „Man darf nicht nur dieses eine Spiel sehen“, sagte Völler in gewohnter Schlichtheit – und selbst der fußballerische Super-GAU, die 1:5-Pleite gegen England vor zweieinhalb Monaten, blieb nicht unerwähnt. „Es war eine schwierige Zeit“, resümierte Völler, weil auch an ihm, dem Teamchef von Zufalls Gnaden, plötzlich herumgenölt wurde, wo er doch nur helfen wollte in höchster Not. Das hat ihn getroffen, verletzt sogar, daran kann es keinen Zweifel geben, auch wenn er, zumal nach der nun doch noch bestandenen Qualifikation, beschlossen hat, „das Positive aus alledem herauszuziehen“. Das dürfte auch die Entscheidung über die eigene Zukunft erleichtern, zumindest bis zur WM sollte der Teamchef weiterhin Völler heißen („Die Entscheidung über meine Zukunft ist im Prinzip schon gefallen“), auch wenn er sich erst noch „mit meiner Frau zusammensetzen und in Ruhe entscheiden möchte“. Spätestens bis Weihnachten soll das geschehen sein.

Mit einer anderen Frage wird sich das Fußball-Volk eventuell gar noch länger beschäftigen müssen, jener nämlich, ob die deutsche Mannschaft am Mittwoch nun so unglaublich stark aufgespielt – oder die Ukraine doch eher erbärmlichst geschwächelt hatte. Und selbst Bernd Schneider, erneut Bester im Dress mit dem Bundesadler und an drei der vier Tore maßgeblich beteiligt, war sich darüber nicht so ganz sicher. „Welches Niveau wir haben“, fand der Leverkusener, „kann man nicht so genau sagen, weil die Ukraine international nicht so hoch angesiedelt ist. Wo wir stehen, wird erst die Zukunft zeigen.“

So lange gilt der Verdacht, dass die Wahrheit irgendwo zwischen den Plätzen liegt – und zwar ziemlich genau in der Mitte von dem in München (1:5 gegen England) und Dortmund (4:1 gegen Ukraine). „Wir sind nicht so gut, wie wir am Anfang der Qualifikation gemacht wurden, aber auch nicht so schlecht wie zuletzt“, findet diese Ahnung von Teamchef Völler Bestätigung, umso wichtiger ist es jetzt, nicht schon wieder die Tatsachen aus den Augen zu verlieren (siehe nebenstehenden Bericht).

Das hat noch nicht einmal mit Miesepeterei zu tun, sondern schon eher mit Sinn für Realität. Denn unterm Strich hat das Spiel vom Mittwoch nicht mehr geboten als den Beweis, dass die deutschen Kicker nicht ganz so schlecht sind wie zuletzt hingestellt; dass sie deswegen gleich gehobenen Ansprüchen genügen, ist damit längst noch nicht bewiesen. Letzten Endes war das Dortmunder Spiel nur Kontrapunkt zu dem in München, auch vom Verlauf her: Schnell mit 3:0 in Führung gegangen, danach über den Kampf zu ganz passablem Spiel mit teilweise sogar rauschartigen Zuständen gefunden, schließlich über die kompletten 90 Minuten kaum an Intensität nachgelassen und sogar auf 4:0 erhöht. Das ist ein nahezu optimaler Spielverlauf, wie nicht nur Michael Ballack findet. „Wir konnten ja nicht davon ausgehen, das wir gleich alle Chancen reinmachen“, sagte der Doppeltorschütze später; wie alles hätte kommen können, wenn die Deutschen längere Zeit vergeblich auf die jederzeit einsturzgefährdete Gästeabwehr eingerannt wären, sagte Ballack nicht. Im Fußball ist das ja auch egal.

Immerhin: Dortmund hat durchaus Perspektiven aufgezeigt, am meisten die, dass es für Rudi Völler eine lohnenswerte Sache ist, auf Blöcke aus den Vereinen zu setzen, diesmal namentlich auf jenen aus Leverkusen. Hinten Nowotny, vorne Ballack, Schneider und Wirbelwind Neuville, dazwischen Ramelow – das ist nicht nur die komplette Bayer-Achse, sondern gleichsam sind damit auch die meisten Torschützen, Torvorbereiter und somit Sieggaranten genannt. „Man kennt die Laufwege und weiß genau, wo man den Ball hinzuspielen hat“, sagt Schneider. „Wenn die Spieler im Verein zusammen spielen, ist das sicher ein Vorteil“, pflichtet ihm Vereinskollege Ballack bei, zumal dann, wenn es im Klub so gut läuft wie derzeit in Leverkusen, was wiederum Oliver Kahn nicht zu erwähnen vergaß: „Man hat gesehen, was es bewirkt, dass Leverkusen zum ersten Mal die zweite Runde in der Champions League erreicht hat“, sprach der Keeper – „enormes Selbstvertrauen“ nämlich, wie es sonst nur noch die eigenen Bayern an den Tag legen. Nur Siege aber, so Kahns fußballerisches Ur-Credo, machen stark. So wie der in der Relegation über die Ukraine beispielsweise. „Das war die Initialzündung, um auf eine höhere Ebene zu kommen. Wir können mit dieser Mannschaft noch sehr viel erreichen“, findet Kahn. Bei ihm klingt das noch nicht einmal euphorisch.

Deutschland: Kahn - Rehmer (87. Baumann), Nowotny, Linke, Ziege - Schneider, Ramelow, Hamann, Ballack - Jancker (58. Bierhoff), Neuville (70. Ricken) Ukraine: Lewitzki - Luschny, Waschtschuk, Golowko, Nesmatschny (55. Schischtschenko) - Subow, Parfjonow, Timoschtschuk (24. Husin), Skripnik - Schewtschenko, Worobej (70. Rebrow) Zuschauer: 52.400; Tore: 1:0 Ballack (4.), 2:0 Neuville (11.), 3:0 Rehmer (15.), 4:0 Ballack (51.),4:1 Schewtschenko (90.)