■ Eine Partei = eine Stimme?
: Verkleinert den Bundestag

betr.: „Vertrauensfrage ohne Augenzwinkern: Der Kanzler meint seine Erpressung ernst“, taz vom 14. 11. 01

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (. . .) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ So steht es im Art. 38 unseres Grundgesetzes.

Es ist selbstverständlich, dass ein gewisser Fraktionszwang zur „Regierbarkeit“ erforderlich ist. Aber es ist mehr als bedenklich, wenn von den verfassungsrechtlichen Regelungen nichts mehr, aber auch gar nichts mehr übrig bleibt. Obwohl, besonders überraschend ist die derzeitige Entwicklung nicht. Seit sich in Berlin die Ganz Große Koalition (SPD, CDU, CSU, FDP, Grüne) zusammengefunden hat, nimmt man es mit den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht mehr ganz so genau. Das hat auch schon der völkerrechts- und verfassungswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien gezeigt.

Aber bitte, liebe Politiker, dann zieht auch die Konsequenzen und tragt euren Teil zur Kostenreduzierung bei: Verkleinert den Bundestag! Denn für was müssen fast 700 Abgeordnete dort auf Kosten des Steuerzahlers rumsitzen, wenn doch nur die Parteiführungen oder die Parteivorsitzenden entscheiden, wie jeder einzelne Abgeordnete abzustimmen hat!

GERHARD RIPPER, Reinheim

Jeder Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Und das hat seinen Grund. Was also, bitte schön, ist ein „Abweichler“? Es ist sicher bequem, zur Charakterisierung von Abgeordneten, die – aus welchen Gründen auch immer – gegen das erwünschte (geforderte?) Abstimmungsverhalten ihrer Fraktion stimmen, diese als „Abweichler“ zu bezeichnen. Denkt man jedoch mal konsequent zu Ende, könnten wir viele Kosten sparen: Ins Parlament kommt pro Partei nur noch ein/e Abgeordnete/r (da ja sowieso alle Abgeordneten einer Partei immer gleich stimmen – sonst macht der Begriff „Abweichler“ ja keinen Sinn), und die Umrechnung der Abstimmungsergebnisse mit den bei der Wahl erzielten Prozente dürfte nicht schwer fallen. HOLER BRÜNING

Nun geht es um „Höheres“. Nun holt mal wieder Kleist hervor. Die deutsche Schicksalsfrage steht im Raum, was? Hegel, Granit, Staatsmacht.

Aber einige sagen nun: We want no teachers, aber der Kaiser (Schröder) steht nun allein gegen alle. Er tut so zumindest. Er verknüpft sich mit der Staatsfrage. Er stellt sich auf den Sockel, ganz Staatsführer, er sagt cesarisch Entweder-oder. Es geht also nicht mehr um das Sowohl-als-auch. Nun kämpft halt das Gewissen einiger weniger Abgeordneter gegen die Macht des Staatese, das war in Deutschland oft so. [. . .] ULRICH WAHL, Ehningen

In dieser Frage, wo es um die historische Frage geht, ob zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten an Kampfeinsätzen teilnehmen sollen, offenbart Gerhard Schröder sein wahres Gesicht. Er verknüpft diese Entscheidung mit der Vertrauensfrage. Damit stellt er sich über die historische Gewissensentscheidung. Nicht das Gewissen der Abgeordneten zählt; nicht die Frage, ob ein derartiger Einsatz deutscher Soldaten richtig ist oder nicht, das alles scheint bedeutungslos vor dem Machtwillen Schröders.

Ich bedauere zutiefst, dass ich vor drei Jahren Gerhard Schröder gewählt habe. Ich erkenne, dass das Parlament des Bundesrepublik Deutschland den Willen seines Volkes in dieser schweren Stunde nicht mehr repräsentiert, dass die Parteien die Macht haben und das Wohl des Volkes aus den Augen zu verlieren drohen.

THOMAS BÜGEL, Stuttgart

Die Vertrauensfrage von Schröder betrachte ich als Erpressung. Ich habe den Verdacht, dass Herr Schröder von dem Desaster seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Kriegsspielen in Afghanistan ablenken will. Wenn wir diesen Krieg jedoch mitmachen, haben wir das Vertrauen in zivile Werte, eine humane Politik und uns selbst verspielt. WULF-HOLGER ARNDT, Berlin

Wir lehnen die Koppelung der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers mit dem Sachentscheid über die Bereitstellung deutscher Soldaten nach Afghanistan entschieden ab und empfinden diesen Schachzug als zutiefst undemokratisch.

[. . .] Die Vertrauensfrage – auch in Verbindung mit einem Sachentscheid – ist zwar rechtlich zulässig, aber als Notfallinstrument für einen Kanzler gedacht, der nicht mehr weiß, ob er eine Mehrheit hinter sich hat. Im gegebenen Fall mangelt es dem Kanzler weder an grundsätzlichem Vertrauen der Koalition noch an einer Mehrheit in der Sachfrage. Die Durchsetzung einer rot-grünen Mehrheit in der Sachfrage ist also für die eigene Politik völlig unnötig, sondern dient nur der eigenen Machtdemonstration. Das halten wir für politisch unverantwortlich und grob fahrlässig.

Wir befürchten, dass bei einem Scheitern der Vertrauensfrage eine Schlammschlacht zwischen den einstigen Koalitionsparteien, aber auch zwischen Regierung und Opposition losbricht, die sich nur auf Personen und Parteien bezieht und alle Sachfragen überdeckt. Das halten wir – gerade bei der allgemein schwierigen politischen Lage – für sehr schädlich. Ein Wahlkampf in den nächsten Monaten würde neue Risse in die Gesellschaft treiben, vermutlich die extremen Parteien und das Lager der Nichtwähler stärken. Den Demokratiegedanken würde diese Entwicklung weiter schwächen, Sachentscheidungen blockieren und unnötig Geld verschlingen.

Wir appellieren deshalb an alle Politiker, sich dafür einzusetzen, dass es nicht zu dieser unheilvollen Verquickung von Sach- und Vertrauensfrage kommt. Wir sind unabhängige Bürger, die solche Aussichten mit tiefer Sorge erfüllen, keine Organisation, die mit diesem Aufruf auch anderweitige politische Interessen verknüpft. CHRISTA PÖPPELMANN, CLEMENS SCHEEL, Berlin

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