Gefährliche Chemotherapie

Wenn es jetzt wirklich darum geht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, dann fällt diese Aufgabe nun Europa zu. Dabei sollte die rot-grüne Regierung ihre Pflicht erfüllen

Der Weg in die Hölle ist ein Abhang, den man mit vielen kleinen Schritten hinuntergeht

Nach dem Fall von Kabul orakelte Außenminister Fischer gestern: Dieser Krieg könne noch lange dauern. Es geht also heute im Bundestag um mehr als um die Ermächtigung zu einer befristeten Entsendung von 3.900 deutschen Soldaten in nicht näher spezifizierte Gebiete zu unklar definierten Aufgaben. Es geht um den Eintritt in einen Krieg mit undefinierten Konturen.

Es geht um die Frage, ob mit diesem Krieg, an dem wir teilzunehmen beginnen und von dem der Kanzler, der das Vertrauen sucht, sagte, über die Kriterien seiner Beendigung könne er keine Auskunft erteilen, ob mit diesem Krieg ein Zeitalter neuartiger, grenzenloser und endloser Kriegsführung beginnt.

Es geht um eine dieser Entscheidungen, die die politische Weltkarte verändern. „Dieser Krieg endet nicht mit (der Zerschlagung von) al-Qaida“, sagte Präsident Bush. Und aus dem Umkreis von Verteidigungsstaatssekretär Wolfowitz berichtete die New York Times: Es wird „ein Krieg gegen den Virus des Terrorismus“. Und da helfe nur Chemotherapie, nicht Amputation. Und wenn das bedeute, sich „auf den nächsten 100-jährigen Krieg einzulassen, dann machen wir das“. Und: Notfalls müsse man „gewisse Staaten beenden“.

Das sind nicht die offiziellen Kriegszielbestimmungen der USA (auch die gibt es nicht) – aber diese Ziele schaffen Klarheit über die Alternative, über die ein Parlament diskutieren müsste. Das Attentat auf das World Trade Center hat sichtbar gemacht, was sich seit zehn Jahren vorbereitet: Zwei Weltordnungen sind nach dem Ende des Kalten Weltbürgerkrieges denkbar. Die eine Ordnung ist die des „Imperiums“: die ökonomische, technologische, mediale und kulturelle Hegemonie des weißen reichen Nordens. Die Herrschaft des globalisierten Kapitalismus, gestützt von der imperialen Schutzmacht der WTO-Welt, den USA. Ihnen assoziiert eine Reihe von Vasallen- oder Pufferstaaten, hierarchisiert nach geostrategischer und ökonomischer Nützlichkeit: unerschlossene Investitionsräume, Arbeitskräftereservoirs, Militärbasen, Rohstoff-, vor allem Ölregionen mit undemokratischen Regimes, aber politisch und militärisch „stabilisiert“. Und weiter draußen dann das „Reich der neuen Barbaren“: ökonomisch uninteressante Regionen, postkoloniale Kriegsgebiete, modernisierungsresistente Kulturen und Religionen. Zonen des Elends, der historischen Demütigung, der Staats- und Rechtlosigkeit.

Diese arme Außenwelt hat vier Waffen, die „coalition of the white race“ (Gore Vidal) herauszufordern: Migration, Drogenhandel, mafiöse Netze, Terrorismus. Allesamt unordentliche, gewaltsame, schwer zu beherrschende Angriffe, die der Norden nur prekär parieren kann: mit Stoßtrupps, mit Staatsstreichen, mit auf Dauer gestellter militärischer Präsenz, mit neuen Formen der Zwangsverwaltung. Gegenwärtig heißt das, mit den Worten des amerikanischen Sicherheitsberaters Brzezinski: US-Hegemonie oder Chaos.

Die Alternative wäre: eine „andere Globalisierung“, eine Demokratisierung der UNO-Welt, eine Reform der Welthandels- und Finanzordnung, eine wirtschaftliche und kulturelle Re-Regionalisierung, eine von der Staatenwelt legitimierte Weltpolizei, kurz: der Beginn einer Weltinnenpolitik. Die USA wollen das nicht: siehe Kioto, siehe ihr Kampf gegen den Weltgerichtshof, ihre andauernde Demütigung der UNO. Der einzig denkbare Träger für einen solchen langwierigen, schwierigen, von Rückschlägen und Terror nicht freien Vorstoß, für eine Balance der amerikanischen Dominanz von Weltbank, WTO und Währungsfonds wäre Europa. „Es liegt jetzt an Europa, die Welt zu einem besseren Ort zu machen“ – dieser Stoßseufzer des amerikanischen Philosophen Richard Rorty ist der Stoßseufzer von vier Kontinenten. Aber Europa existiert nicht, und da es nicht existiert, versuchen die Regierungen seiner drei stärksten sozialdemokratisch regierten Nationen, über die Erfüllung der Vasallenpflichten – und in Vasallenkonkurrenz am Hof von Washington – Einfluss auf das Imperium zu behalten – was sollen sie, beste demokratische Absichten unterstellt, auch sonst tun in dieser Zwangslage? Die Alternative wäre: offene, und da Europa nicht existiert, einzelstaatliche Opposition gegen die USA, und das hieße: Ausstieg aus jeglicher Gestaltungsmöglichkeit in der neuen Weltordnung.

Die Alternative zur US-Hegemonie ist eine Demokratisierung der UNO-Welt – ja eine Weltinnenpolitik

Es geht also heute nicht um die Frage, ob der Kanzler oder wer auch immer aus welchen obskuren Motiven Deutschland oder sich selbst in den politischen Erwachsenenstatus hieven will, das ist schlechte Psychologie. Nehmen wir mal an, der Kanzler wählt aus Verantwortungsethik die kleine Chance, den Fuß in der Tür zu behalten, dann wäre ein Abstimmungskriterium: Wo ist die Schmerzgrenze, wenn die Amerikaner die Tür zuschlagen? Wo beginnt das „Abenteuer“ für Gerhard Schröder, für Deutschland, für Europa? Wie können wir sicher sein, dass wir und die anderen Vasallen nicht dauerhaft zu militärischen Hilfsdiensten in einer dauerhaften Low-Intensity-Militarisierung der Welt nach amerikanischem Bild missbraucht werden? Wo ist die Grenze: heute die Sicherung des Weltölhandels am Horn von Afrika, morgen der Ausbau der deutschen Marine? Und übermorgen?

Der Krieg ist erklärt, und wir sind dabei. Das ist beschlossene Sache. Die politische Sünde des Kanzlers: dass er die Zustimmung zu einem Mitmachen, das auf weite Strecken ein Mitraten ist, mit parlamentarischer Taktik oktroyiert, dass er unkonditionale Mitwirkung bei der „Terrorismusbekämpfung“ verlangt, ohne eine Debatte über das weltpolitische Feld hinter ihr zuzulassen. Der Weg in die Hölle ist ein Abhang, den man mit kleinen Schritten hinuntergeht. Die Aufgabe der Grünen und der SPD-Linken wäre es gewesen, den von Schröder vernebelten historischen Scheideweg sichtbar und die Zustimmung zum Krieg nicht von Daten und Einsatzorten abhängig zu machen – dafür ist es längst zu spät, wenn die militärische Logik regiert; und niemand außer sie selbst wird die USA abhalten, weitere „Schurkenstaaten“ zu bekriegen – sondern von einer deutschen Initiative zur schnellen Stärkung von Europas Rolle in der Neuordnung der Welt: mit definierten, datierten, kontrollierbaren Zwischenzielen. Kanzler und Außenminister zu zwingen, ihre historische Pflicht zu tun. Seiner Partei diesen Weg nicht gewiesen zu haben, ist das politische Vergehen des Außenministers. Schröder braucht, da hat er Recht, für eine Grundsatzentscheidung eine klare, feste eigene Mehrheit: für die prekäre Vasallentreue ebenso wie für den Kampf um eine weltpolitische Wende – aber man darf sie ihm nicht geben, ohne dass er offen – und auch in den USA vernehmbar – erklärt, welchen Weg er grundsätzlich gehen will: den der Hegemonialmacht oder den des europäischen Universalismus. Vor der Vertrauensfrage – oder anlässlich von Neuwahlen. Der erzwungene Blankoscheck am Scheideweg aber entmündigt das Parlament in einer Existenzfrage Europas – und beschleunigt, nebenbei, das Ende der Grünen. MATHIAS GREFFRATH