Das Programm Rugova

Die Partei der Symbolfigur des Kosovo wird Wahlsieger. Er weckt Gefühle. Gefragt ist Pragmatismus

Die aus der UCK hervorgegangenen Parteien haben kaum Einfluss

aus Priština ERICH RATHFELDER

Der kalte Regen peitscht den 30.000 Menschen im Stadion von Priština in die Gesichter. Und trotzdem herrscht hier gute Stimmung an diesem 14. November.Denn bald tritt „er“ bei der Wahlkundgebung auf. Er: Das ist Ibrahim Rugova, der vor zehn Jahren zum ersten Mal gewählte Präsident der Albaner des Kosovo. Der charismatische Führer, der Schriftsteller und Intellektuelle, der gegen die serbische Führung unter Slobodan Milošević seine Stimme erhob. Der schon 1989 vehement gegen die Aufhebung des Autonomiestatuts des Kosovo protestierte. 1991 mussten die Wahlen noch im Untergrund abgehalten werden. Die serbischen Behörden unterdrückten alle politischen Regungen der albanischen Bevölkerungsmehrheit des Kosovo.

Doch jetzt, nach dem Krieg und der Nato-Intervention, nach über zwei Jahren Leben unter der UN-Verwaltung, geht für die Kosovo-Albaner ein Wunschtraum in Erfüllung. Am 17. November wird zum ersten Mal in der Geschichte des Gebiets ein freies Parlament gewählt. Und Rugovas Partei, die „Demokratische Liga Kosova“, liegt bei allen Umfragen eindeutig vorne. Die Schätzungen reichen von 50 bis 70 Prozent der Stimmen, die Rugovas Partei erhalten wird. Und das, obwohl Rugova in den letzten Jahren immer öfter kritisch betrachtet worden war.

Seine Strategie des passiven Widerstandes gegen die serbische Unterdrückung war in den Augen vieler Albaner 1995 gescheitert, als das Kosovo-Problem bei den Friedensverhandlungen zur Beendigung des Krieges in Bosnien ausgeklammert wurde. Damals regten sich radikalere Stimmen, damals spaltete sich die mit 900.000 Mitgliedern fast die gesamte erwachsene albanische Bevölkerung organisierende Partei. Junge Heißsporne gingen in den Untergrund. Und die UCK, die Befreiungsarmee des Kosovo begann ihren bewaffneten Kampf, der die serbische „Besatzungsmacht“ zu massiven Übergriffen auf die Zivilbevölkerung und zur Zerstörung ganzer Landstriche herausforderte. Nach den gescheiterten Verhandlungen von Rambouillet begann schließlich der Nato-Angriff gegen Serbien.

Die UCK war auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Ansehens, Rugova auf dem Tiefpunkt, als die Nato-Truppen im Juni 1999 in das Kosovo einmarschierten. Selbst Rugovas engste Mitarbeiter kritisierten sein passives Verhalten. Dass er im Frühjahr 1999, als hunderttausende Albaner von den Serben aus dem Land gejagt wurden, mit Milošević verhandelte, dass er später nicht in den Flüchtlingslagern auftauchte, dass er keine tröstenden und aufmunternden Worte fand, tragen ihm seine Gegner bis heute nach. Als er sich nach dem Krieg in seinem Haus einigelte, kaum öffentlich auftrat, irritierte sogar die internationalen Institutionen. In den Augen seiner Anhänger aber hat ihm das alles nicht geschadet. Die im Stadion jubelnden Menschen verübeln ihm nicht einmal, dass seine im Wahlkampf hervorgehobene Forderung, ein Programm zur Rettung der Schäferhunde des Shargebirges aufzulegen, etwas entrückt erscheint.

Eine Rettung der Schäferhunde im Shargebirge fordert der künftige Präsident

Rugova ist ein Phänomen. Eine Ikone. Ein Symbol. Ihm wird alles verziehen. Er bediene die Sehnsucht vieler Menschen nach Charisma und Identität, sagt ein enger Mitstreiter. Als er im Stadion auftritt, ist der Jubel grenzenlos, nicht wenige haben Tränen in den Augen. Bujar Bukoši, bis 1999 Premierminister der aus den Wahlen im Untergrund hervorgegangenen Schattenregierung im deutschen Exil, dagegen hat gemischte Gefühle. Der knapp fünfzigjährige Arzt fordert Pragmatismus statt Emotion, eine vorwärtsgerichtete Politik. Obwohl er als parteiinterner Gegner Rugovas gilt, hat er gerade wegen seiner Haltung Chancen, nach den Wahlen Premierminister zu werden. Die Alternativen zu dem weltgewandten und selbstkritischen Bukoši sind dünn gesät. Auch in der Opposition. Beide aus der Konkursmasse der UCK hervorgegangenen Parteien haben ihren Stallgeruch noch nicht verloren. Die Mittelschichten der Albaner Kosovos sind misstrauisch gegenüber Leuten, die nach dem Kriege ein undemokratisches, totalitäres Regime errichten wollten, politische Gegner ausschalten und weitgehend verantwortlich für den Terror gegenüber den Minderheiten, vor allem den Serben und den Roma sind. Die Partei des ehemaligen UCK-Führers Hašim Thaci verfügt lediglich über eine Mehrheit in Drenića, dem Zentrum des bewaffneten Widerstandes. Und der Konkurrent im eigenen Lager, der ehemalige Kriegsheld Ramuš Harandinaj, kann für seine Partei AAK lediglich mit einer Mehrheit der Stimmen in den von der früheren serbischen Repression besonders betroffenen ländlichen Gebieten Westkosovos rechnen. Obwohl sich beide UCK-Führer moderat geben und durchaus qualifiziertes Personal herangezogen haben, finden es viele tonangebende Geschäftsleute einfach zu riskant, Leute an der Macht zu sehen, die immer noch im Ruch stehen, mehr auf ihren eigenen Vorteil als auf die Entwicklung des Landes zu achten.

Und das Land boomt, zumindest soweit es einige Albanergebiete betrifft. Die seit 1989 von den Serben aus den staatlichen Betrieben geworfenen Albaner mussten schon damals eine Privatwirtschaft aufbauen, um zu überleben, während die auf 90.000 Menschen geschätzte serbische Bevölkerung bis heute an der bankrotten alten Industrie hängt. Jetzt komme die unternehmerische Initiative den Albanern zu gute, sagt ein Geschäftsmann aus Priština. Der Augenschein gibt ihm recht. Die Kriegsschäden sind in vielen vor zwei Jahren noch völlig zerstörten Landstrichen verschwunden, die meisten Dörfer sind wieder aufgebaut. Im albanischen Teil der geteilten Stadt Mitrovića haben Neubauten die Ruinen verdrängt, an der Straße von Mitrovića-Priština bis an die südliche Grenze nach Mazedonien sind lange Stücke des ehemals freien Feldes überbaut. Das wiederhergestellte Straßennetz kann den angeschwollenen Verkehr kaum mehr aufnehmen.

Die Kompetenzen des zu wählenden neuen Parlamentes sind zwar beschränkt (siehe unten). Aber erstmals werden alle Bevölkerungsgruppen zusammen in einem gemeinsamen Parlament mit einer voraussichtlich moderaten Mehrheit vertreten sein. Allein das ist ein Fortschritt.