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Die „Friedrichshain Anthologie“
: Suff und Sinnlichkeit

Dichtung kann Sinnlichkeit in Sprache übersetzen. Umgekehrt wird Sprache, poetisch kodiert, zur sinnlichen Erfahrung. Sabine von Sarnowski schreibt von den Augen des Liebsten als „mandelblütentraum“ und von den „milliarden federzarter flügelschlägen“ ihres Herzens. Kitsch as Kitsch can. Zwei Zeilen später setzt sie jedoch Villon-Kinski-mäßig eins drauf: „ich bin so wild nach deiner nackten haut/nach deinem steifen schwanz/und deinem blutorangenmaul“. Kinski war schon kitschig, Villon hat vielleicht nie gelebt. Und die Worte beben lustvoll.

Sarnowski ist eine von vierunddreißig – weitgehend unbekannten – Autorinnen und Autoren der kürzlich erschienenen „Friedrichshain Anthologie“. Dieses Off-Bändchen, ein „Printing on demand“, dessen grauenhaftes dünnes Papp-Cover sich innerhalb weniger Minuten nach dem Entfernen der Schutzfolie wie ein Schweineschwanz nach oben rollt, präsentiert Gedichte und kurze Prosastücke, die nicht mehr als drei Din-A-4-Seiten umfassen, Krimis, Märchen, Reportagen, Erzählungen. Die Herausgeber, Spunk Seipel von der „Galerie expo 3000“ und Nikolas Sustr und Björn von Rimscha, Schöpfer der Spaß-Polit-Initiative „Friedrichshain First!“, wollten, laut Vorwort, das „literarische Schaffen“ in der Nachbarschaft „dokumentieren“.

Nun wissen wir ja alle, dass Friedrichshain nicht gerade für seine Eleganz, verfeinerte Lebensart und mondäne Urbanität bekannt ist, sondern eher für Suff, Hundescheiße und Sanierung. Genau darum geht es in den Beiträgen, die in ihrer Qualität sehr unterschiedlich ausfallen. Da finden sich Wichsfantasien, die doof wie Stulle sind, Terrorgeschichten mit „Sozialkritik“ und verworrene Beziehungsdramen, die an Schulaufsätze erinnern. Da gibt es allerhand Unbedarftes, Unausgegorenes, Schreibversuche, und zynische Bukowski-Litanei.

In ihren stärkeren Momenten bietet die Friedrichshain-Compilation sprachlich durchkomponierte, fantastisch-surreale Erzählungen. Gregor Koall schildert einen Wachtraum, der ihn geradewegs in den Schlund eines riesigen Müllwagens befördert. Anna Katharina Hahn schlüpft in die Rolle des männlichen Ich-Erzählers, der seine Studienabschlussarbeit über Verbrecher-Physiognomien in den Romanen Thomas Manns schreibt und sich an seinem Ekel vor Proleten-Susi ergötzt. Zum Schluss gibt es einen Mord – vielleicht.

Heraus sticht Erika Paschke, die mit 71 Jahren älteste Autorin. In ihrer Geschichte „Humbug“ beschreibt sie minutiös den Gang einer bürgerlichen Kleinfamilie in die Kunstausstellung. Die Vater-Mutter-Kind-Institution versichert sich ihrer selbst im sonntäglichen Ritual, mechanisch, verlogen, sinnentleert.

Dass das Friedrichshainer Independent-Flair mit zunehmender Modernisierung und „Bevölkerungsumschichtung“ ebenfalls an „Sinn“ verliert, ist eine große Sorge der Herausgeber. In ihrem – amüsanten – Vorwort, einem Mix aus Stadtchronik und editorischem Erklärungsversuch, rollen sie die Historie des einstigen „Arbeiterbezirkes“ auf, monieren die neuen Cocktailbars mitsamt „bravem“ Publikum und sorgen sich um die „Vitalität“ der Nachbarschaft. Die „Friedrichshain Anthologie“ ist ein kleiner Versuch, diese Vitalität zu fixieren.

JANA SITTNICK

Der Band kann bestellt werden bei: www.expo3000.org. oder www.friedrichshainfirst.de