Neun Jahre bis Prozessbeginn

Eine kleine Ewigkeit nach dem Versuch des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen kommt der Fall vor Gericht. Sprecherin: Die Justiz hat sich vorrangig mit Haftsachen befassen müssen. Mordversuch und Brandstiftung von vier Angeklagten blieben liegen

von HEIKE KLEFFNER

Das Verfahren mit dem Aktenzeichen 33 Kls 27/95 beim Landgericht Schwerin ist eigentlich ein Altfall. Aber ein brisanter. Ab Dienstag müssen sich in Schwerin vier Männer im Alter von 26 bis 28 Jahren vor Gericht verantworten. Obwohl das Tatmotiv auf „Ausländerhass“ lautet und gegen die Täter schwerste Beschuldigungen wie „versuchter Mord“ und gemeinschaftliche Bandstiftung erhoben werden, hat sich der Prozessbeginn unerträglich lange hingezogen. Im August 1992 hätten die Angeklagten an den schweren rassistischen Ausschreitungen vor der „Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber“ in Rostock-Lichtenhagen teilgenommen, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft.

Drei der vier Angeklagten seien in der Nacht vom 24. August 1992 zunächst in das so genannte Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen eingedrungen. Danach hätten sie vor dem Haus Molotowcocktails gebaut und auf das Haus geworfen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in dem Plattenbau noch etwa 150 Menschen – rund 120 ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter und 30 Deutsche, darunter auch der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter.

Die Brandnacht von Rostock-Lichtenhagen ist in die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung eingangen, weil sich schon zwei Tage vor dem 24. August hunderte von Naziskins und Anwohnern vor dem Wohnheim versammelt und rassistische Parolen gegrölt hatten. Die Polizei reagierte damals hilflos. In der Nacht, als aus einer Menge von rund 800 Naziskins und rund 3.000 Schaulustigen das Haus in Brand gesteckt wurde, waren die meisten Beamten abgezogen – die Rechten hatten freie Hand.

Unverständlich bleibt, warum die vier Angeklagten im Verfahren vor dem Landgericht Schwerin erst jetzt vor Gericht kommen. Gerichtssprecherin Katja Surminski bestätigt, dass gegen die damals 17- bis 19-jährigen Skinheads schon im September 1992 Haftbefehle erlassen wurden. Doch die wurden sofort außer Vollzug gesetzt – von Richter Horst Heydorn, der am kommenden Dienstag auch als Vorsitzender Richter der 3. Großen Strafkammer den Prozess leiten wird.

Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme 1992 waren die vier Skinheads in Schwerin längst als rechte Schläger polizei- und gerichtsbekannt. Ihre Opfer: Linke und ausländische Jugendliche. Obwohl die Staatsanwaltschaft Schwerin im April 1995 eine Anklage gegen die vier formulierte, verzögerte sich das Verfahren noch einmal um fast sechs Jahre. Die Jugendkammer unter Vorsitz von Richter Heydorn „ist überlastet gewesen“, sagt die Gerichtssprecherin. Man habe „vorrangig Haftsachen“ behandeln müssen.

Als „merkwürdig“ bezeichnet Rechtsanwalt Thomas Herzog das Vorgehen von Richter Heydorn. Herzog hat für den ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter Nguyen Do Tinh, der am 24. August 1992 nur knapp mit dem Leben davon kam, die Nebenklage beantragt. Gestern wurden der Vietnamese und Wolfgang Richter offiziell als Nebenkläger zugelassen.

Auf die Angeklagten scheint das seit neun Jahren schwebende Verfahren keine Wirkung gehabt zu haben. Einer von ihnen, der 26-jährige Ronny S., wurde nach Angaben von Landgerichtssprecherin Surminski im Sommer 2000 unter anderem wegen eines rechtsextremen Propagandadelikts und anderer Straftaten zu einer Haftstrafe verurteilt. Er wird aus der JVA Bützow in den Gerichtssaal gebracht. Auch sein Mitangeklagter, der 27-jährige Andre B., wurde 1996 wegen Verstoßes gegen Paragraf 86 und 86a StGB verurteilt.

Juristisch wurde seit 1992 lediglich eine Hand voll der an der rassistischen Brandnacht unmittelbar beteiligten Rechten zur Verantwortung gezogen. Auch die politische Aufarbeitung scheiterte: Ein Untersuchungsausschuss des Schweriner Landtages konnte die Frage, wie es zu dem desaströsen Polizeieinsatz kam, nicht abschließend klären. Ab Dienstag könnten in Schwerin neue Fragen aufgeworfen werden.