Hinter dem Vorhang

Frauen haben in Afghanistan keine Rechte – und werden verfolgt, wenn sie das ändern wollen

von DANIELA WEINGÄRTNER

Ob wir uns nicht im Kino treffen könnten, hatte Sabira Mateen am Telefon gefragt. Den Namen hatte sie sorgfältig buchstabiert, als wäre es ihr richtiger. Im Auftrag ihrer afghanischen Frauenorganisation Rawa war sie vier Tage lang in Brüssel unterwegs, gab Interviews und sprach vor dem Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments. Ganz früh am nächsten Morgen würde sie nach Pakistan zurückfliegen und dann Monate keine Gelegenheit mehr haben, „Kandahar“ zu sehen.

Kandahar . . . Die Taliban-Hochburg im Süden Afghanistans ist das Ziel einer Reise, die die Erzählerin im Film unternimmt, um ihre Schwester zu retten. Es geht lähmend langsam voran, denn sie muss Männer finden, die sie ein Stück des Weges begleiten. Die Frauen, denen sie begegnet, haben kein Gesicht. Sie werden von den Männern verächtlich „Schwarzköpfe“ genannt, sind nichts als farbige Burkas auf gelbem Sand. Nur ein Mal, im Schutz einer Hochzeitsgesellschaft, reist die Erzählerin im Film zwischen verschleierten Frauen. Anschließend sitzt Sabira in Brüssels Glitzermeile vor einem Glas Tee und spricht übers Heiraten. Die zierliche junge Frau mit dem dunklen Pagenkopf und den schräg geschnittenen großen Augen ist 28 Jahre alt, nach afghanischen Maßstäben ein spätes Mädchen. Ihre Mutter war dreizehn, als sie einem sechzehnjährigen Jungen vermählt wurde. Die Cousinen fragen schon, was wohl mit ihr nicht stimmt? Der Vater drängt, was werden soll, wenn er einmal nicht mehr da ist.

„Ich bin mit Rawa verheiratet, Rawa ist meine Familie“, sagt Sabira und lacht. Sie könnte eine Novizin spielen, in einem Hollywood-Film. Dann bekäme sie am Ende ihren Märchenprinzen. Im richtigen Leben ist es für sie nicht vorgesehen, Männer kennen zu lernen. „Mein Vater ist ein gebildeter Mann. Aber er würde niemals akzeptieren, dass ich spät abends mit einem Jungen zusammen bin.“ Sabira findet das ganz in Ordnung. „Wir haben unsere eigene Kultur, eure Freiheiten passen noch nicht für uns.“

Wenn sie für Rawa in Islamabad arbeitet, lebt sie mit fünfzehn anderen Mädchen zusammen. „Natürlich in einer Familie. Wir können nicht allein leben“, sagt sie mit großer Selbstverständlichkeit. In Pakistan geht sie nie ins Kino. Den amerikanischen Kitsch, der gezeigt wird, will sie nicht sehen. So viel Geld hat sie auch gar nicht. Und ihr Leben ist ohne Kino gefährlich genug. Auf der Straße muss sie stets fürchten, verprügelt oder verhaftet zu werden. Denn afghanische Flüchtlinge werden in Pakistan nur unwillig geduldet. Afghanische Frauen sind der letzte Dreck. Bei politischer Arbeit sollten sie sich besser nicht erwischen lassen. Die Rawa-Frauen treten deshalb unter ständig wechselnden Namen auf. Sie hoffen dadurch weniger aufzufallen.

„Aber wer kann schon sagen, was morgen passiert“, sagt Sabira und lacht wieder. Mehr als um ihr eigenes Leben sorgt sie sich um die Rawa-Mitarbeiterinnen, die in Afghanistan geblieben sind. Die meisten ihrer „Schwestern“, wie sie die ehemaligen Mitschülerinnen aus der Rawa-Schule nennt, arbeiten „under cover“, unter einer Burka verborgen, als Krankenschwestern. Unter dem zeltartigen Umhang lässt sich das Erste-Hilfe-Köfferchen gut verbergen. Unbemerkt schlüpfen die Rawa-Helferinnen in die Häuser der Frauen. Denn die dürfen keinen Arzt aufsuchen, auch dann nicht, wenn sie schwer krank sind.

Im Film „Kandahar“ schildert die Erzählerin hinter einem Tuch verborgen ihre Symptome. Der Arzt untersucht Augen und Mund der Patientin durch ein Loch im Stoff. Eine Szene, die westliche Zuschauerinnen erschüttert. Sabira bleibt kühl. „Das ist doch nur ein Film.“ Der Regisseur habe sich eben in die romantischen Bilder verliebt. Die Wirklichkeit sei viel schlimmer. In dem Brüsseler Art-Deco-Lokal, zwischen all den teuer gekleideten, Champagner trinkenden Menschen fällt es schwer, das zu glauben.

Wenn Sabira in Islamabad oder Peschawar eingesetzt ist, organisiert sie politische Treffen der Frauen, bereitet Kampagnen vor oder arbeitet an der Internet-Seite ihrer Organisation. Wann immer es geht, kehrt sie in ihr Flüchtlingslager zurück, versucht ein paar Tage an der Schule zu unterrichten oder geht zu den Frauen, „um deren politisches Bewusstsein zu stärken“, wie sie sagt. Es ist ein hartes Leben, Tee mit einem Stück Brot vor Sonnenaufgang, einmal am Tag fließendes Wasser, oft tagelang kein Strom.

Auch in Sabiras Geschichte spielt eine Hochzeit eine wichtige Rolle. Denn der Onkel brachte sich nach dem russischen Einmarsch aus Kabul eine zweite Frau mit ins Dorf. Er feierte auf russische Art: „Mit Alkohol. Er tanzte sogar mit seiner neuen Frau.“ Für die Leute im Dorf war das ein Schock. Die fünfjährige Sabira hat das Fest genossen, das gute Essen, die Musik. Ihr Vater aber und ihr Großvater blieben der Hochzeit aus Protest fern.

Mit ihrer Großmutter und der Mutter zusammen ging sie hin. Obwohl die Männer es verboten hatten. „Es gibt so viele Formen von nein bei uns – die Frauen wissen, wann es ernst ist und wann nicht.“ Da der Onkel mit den neuen russischen Machthabern zusammen arbeitete, war es gefährlich, das Fest zu boykottieren. Noch in der Nacht brachte der Großvater die Familie fort aus dem Dorf.

Den Frauen in Afghanistan half die neue Freizügigkeit auf russische Art wenig. Denn sie verloren den Schutz, den die alte Ordnung gewährt hatte. Der Brautpreis durfte nur noch 300 Afghani betragen, ein symbolischer Betrag. Davon konnten die Väter die Ausstattung ihrer Töchter nicht bezahlen, in der Familie des Bräutigams sank der soziale Status der angeheirateten Frauen. Die Männer behielten die Vielehe bei, fühlten sich aber nicht mehr dafür verantwortlich, alle Frauen zu versorgen. Sabiras trinkfreudiger Onkel kam in irgend einem Clankrieg um. Seine erste Frau führt seither mit ihren fünf Kindern ein elendes Leben.

Sabiras Familiengeschichte dagegen hat ein Happy-End. Das hat viel mit Rawa zu tun, aber noch mehr mit Sabiras ruhiger Entschlossenheit. Als sie neun Jahre alt war, schickte der Vater sie nach Quetta in eine Schule, die von Rawa-Frauen geleitet wurde – zwei Nächte und einen Tag war sie mit dem Zug unterwegs.

Aber sie weinte nicht lange, die netten Lehrerinnen und die vielen Bücher machten den Neuanfang leicht. Sabiras Vater hatte inzwischen in seinem Flüchtlingslager an der pakistanisch-afghanischen Grenze eine Schule für Jungen aufgebaut. Heute lernen dort auch 400 Mädchen – obwohl die Gegend von Fundamentalisten kontrolliert wird. Die Hilfsorganisationen geben den Schülern Zucker, Öl und andere Lebensmittel mit nach Hause, das bringt selbst sture Väter zu der Erkenntnis, dass Bildung für Mädchen keine so schlechte Sache ist. Rawa benutzt in seinen Mädchenschulen den selben Trick.

Als Sabira die Ausbildung als Lehrerin abgeschlossen hatte und nicht in diese von Fundamentalisten beherrschte Region zurückkehren wollte, fügte sich die Familie den Karrierewünschen der Tochter: Vater, Mutter und drei Brüder zogen nach Quetta um, der Vater fand Arbeit in einer Rawa-Schule.

„Es ist für mich unglaublich, dass mein Vater einem Mädchen aus Afghanistan so viel Respekt entgegen bringt“, sagt Sabira. Das Mädchen aus Afghanistan reist inzwischen durch die ganze Welt, um die politischen Forderungen von Rawa bekannt zu machen. Vier Monate war sie im vergangenen Jahr auf Vortragsreise in den USA. Natürlich sei vieles seltsam dort. Im Fernsehen hat sie eine Talk Show gesehen. Das Thema: „Hilfe, meine Mutter zieht sich an wie ein Teenager!“

Talk Shows findet sie unwichtig. Wichtig ist, dass man in den USA sehen kann, dass es nicht Jahrhunderte dauern muss, um vom Mittelalter in der Neuzeit anzukommen, wenn man kämpft und hart arbeitet. Wichtig ist, dass ihre Mutter in zwei Jahren Lesen und Schreiben gelernt hat und heute als Krankenschwester für Rawa arbeitet. Wichtig ist, dass der Westen nicht die Nordallianz durchfüttern darf, wie er einst die Taliban gefüttert hat. „Diese Clanchefs waren schon mal vier Jahre an der Macht – das war ein Alptraum für die Frauen. Sie kidnappen, vergewaltigen, setzen unsere Häuser in Brand – sie sind schlimmer als die Taliban, sie sind wie wilde Tiere.“