Die Vorhut der Diplomaten kommt

In Kabul wollen internationale Vertreter Gespräche über die politische Zukunft des Landes beginnen, während in anderen Regionen noch gekämpft wird

von SVEN HANSEN

Auf dem afghanischen Flughafen Bagram 15 Kilometer nordöstlich von Kabul sind bereits am Donnerstag britische und amerikanische Spezialeinheiten gelandet. Die rund 100 Soldaten der „Special Boat Services“ der Elitetruppe „Royal Marines“ und eine kleinere Zahl von US-Soldaten sollen den Flughafen zunächst für humanitäre und diplomatische Missionen absichern, sagte gestern der britische Außenminister Jack Straw in London der BBC.

Am Wochenende sollen möglicherweise weitere britische Truppen folgen. Großbritannien hält bis zu 4.000 Soldaten bereit. Straw kündigte an, bald auch einen diplomatischen Vertreter nach Kabul zu entsenden, um bei der Bildung einer afghanischen Regierung auf breiter Grundlage zu helfen. Eine unbekannte Zahl britischer SAS-Spezialeinheiten ist bereits seit längerem in Afghanistan im Einsatz. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bestätigte gestern, dass US-Soldaten im Süden Afghanistans in Kämpfe verwickelt seien. Eigene Verluste habe es dabei nicht gegeben, so Rumsfeld.

Frankreich entsandte gestern seine ersten Soldaten. Etwa 60 Soldaten einer Eliteeinheit der Marine verließen Südfrankreich mittags mit Ziel Usbekistan. Von dort aus sollen sie am Sonntag mit US-Hubschraubern zur nordafghanischen Stadt Masar-i Scharif gebracht werden. Sie sollen den dortigen Flughafen sichern und die Verteilung von Hilfsgütern ermöglichen, teilte das französische Verteidigungsministerium mit. Noch gestern sollten weitere 300 Soldaten auf den Weg geschickt werden.

Russland entsandte eine Delegation, die mit der Nordallianz Gespräche aufnehmen soll. Auch der stellvertretende UN-Sonderbeauftragte Francesc Vendrell wollte noch gestern Verhandlungen mit den neuen Machthabern in Kabul aufnehmen. In New York wollte Lakdar Brahimi, der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs, mit der Afghanistan-Unterstützungsgruppe aus 21 Nationen das weitere Vorgehen beraten. Für Dienstag laden die USA zu einer internationalen Aufbaukonferenz ein.

US-Kampfflugzeuge bombardierten auch gestern wieder Stellungen der Taliban in Kundus im Norden und in Kandahar im Süden. Bei den Angriffen auf Kandahar wurden nach Angaben der Agentur AIP ein Ministerium der Taliban und eine Moschee getroffen. Mindestens elf Bewohner seien dabei getötet worden.

Wie weit die Taliban noch ihre Hochburg Kandahar kontrollierten, war unklar. Zum Teil bereiteten sie die Verteidigung der Stadt gegen aufständische paschtunische Kämpfer vor. Es gab aber auch Berichte, dass Aufforderungen für eine friedliche Übergabe der Stadt erwogen würden. Am Vortag hatte Taliban-Chef Mullah Omar zum Widerstand aufgerufen und einen Guerillakrieg angekündigt. Am Sonntag wollen die Stammesführer noch eine Delegation nach Kandahar schicken, um Omar zum Aufgeben zu bewegen. Wenn dies scheitern sollte, sei eine Schlacht um Kandahar wahrscheinlich. Gestern meldete der iranische Rundfunksender Maschhad allerdings unter Berufung auf eine ungenannte Quelle, dass Omar und Ussama Bin Laden bereits nach Pakistan geflohen seien. Eine Bestätigung gab es dafür nicht.

Taliban eingeschlossen

In der Stadt Kundus sind nach wie vor mehrere tausend Taliban von Truppen der Nordallianz eingeschlossen. Während die US-Regierung von rund 3.000 Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern sprach, gaben Kommandeure der Nordallianz die Zahl der eingeschlossenen Taliban mit bis zu 20.000 an, unter denen 3.000 bis 6.000 Kämpfer aus Pakistan, Saudi Arabien, Usbekistan und Tschetschenien seien. Bisher scheiterten alle Verhandlungen über eine kampflose Übergabe der einzigen Stadt mit einem großen paschtunischen Bevölkerungsanteil im Norden.

Das größte Problem ist das ungeklärte Schicksal ausländischer Kämpfer. Sie haben bisher nur die Wahl zwischen Tod im Kampf oder Gefangenschaft, die auch tödlich sein könnte. Denn bisher gab die Nordallianz keine überzeugende Zusicherung, dass sie unversehrt bleiben werden. Nach der Einnahme von Masar-i Scharif vor einer Woche sollen bis zu 600 ausländische Taliban-Kämpfer getötet worden sein.

Nach Angaben des US-Senders CNN hat die Nordallianz mehrere Anführer der Taliban und des Terrornetzwerks al-Qaida gefasst. Die US-Regierung hofft jetzt, von den Gefangenen Informationen über Bin Laden und Mullah Omar zu erhalten.

Derweil bahnen sich in den von den Taliban aufgegebenen Gebieten Machtkämpfe an. Dies betrifft zum einen Rivalitäten zwischen der Nordallianz und paschtunischen Stammesführern, zum anderen auch um Machtkämpfe innerhalb der Stämme. Beobachter befürchten, dass Afghanistan schon bald wieder in von rivalisierenden Warlords kontrollierte Gebiete zerfallen könnte.