WER EINEN GUERILLAKRIEG VERHINDERN WILL, MUSS DIE TALIBAN KAUFEN
: Stammesdenken ist keine Lösung

Nun hat die Nordallianz zwei Drittel von Afghanistan fast kampflos erobert – schneller, als die meisten erwartet haben. Wir Exil-AfghanInnen staunen allerdings weniger. Desertionen haben eine lange Tradition in Afghanistan. Auch jetzt gibt es Gerüchte, dass der Fall von Masar-i Scharif und Kabul nicht oder nur zum Teil militärisch bedingt war. Entscheidend war offensichtlich, dass Taliban-Kommandeure und ihre Soldaten durch viel Geld „umgedreht“ wurden. Dies bestätigt, was wir stets gesagt haben: Die Bombardierungen sind so grausam wie überflüssig. Schon die Mudschaheddin siegten gegen die Sowjets, indem sie Desertionen ermöglichten. Und genauso kauften später die Taliban die Kommandanten der Nordallianz.

Und auch jetzt kämpfen viele Krieger der Taliban nur, weil sie von ihren Kommandanten Geld erhalten. Da den Frauen Erwerbsarbeit verboten wurde, bringt der Kriegsdienst oft das einzige Familieneinkommen – eine indirekte und perfide Form der Zwangsrekrutierung. Nun plant ein Teil der Taliban einen Guerillakrieg, und auch er wird nur durch Anreize zu verhindern sein.

Dass die Nordallianz faktisch die Regierung übernommen hat, ist für uns demokratische Exil-AfghanInnen wenig Grund zum Jubel. Ihre Führer sind die denkbar blutigsten Verbündeten, viele von ihnen denken genauso fundamentalistisch und frauenfeindlich wie ihre Gegner.

Ein Nationalrat, auch Loya Jirga genannt, sollte schnell einberufen werden. Zwar ist dies traditionell ein Männergremium, im gegenwärtigen Machtvakuum wäre aber die Teilnahme von Frauen wahrscheinlich leichter durchzusetzen als sonst. Dazu ist internationaler Druck nötig. Eine Gruppe von prominenten internationalen Beobachterinnen sollte überwachen, ob die Frauen tatsächlich die ihnen zustehenden Rechte erhalten. Der Weltsicherheitsrat hat vor einem Jahr mit seiner Resolution 1325 die völkerrechtliche Voraussetzung geschaffen: die Beteiligung von Frauen im Friedensprozess ist für UN-Organisationen und -Mitgliedsländer bindend vorgeschrieben.

Die Gefahr ist groß, dass in eine neuen Verfassung Elemente der Scharia eingearbeitet werden, die vor allem zu Lasten der Frauen gehen. Deshalb sollte man die Verfassung von 1963/64 wieder einführen, die sich an der UN-Charta der Menschenrechte und am französischen Code civil orientiert. Sie sichert nicht nur die Rechte der Frauen, sondern auch die Rechte der verschiedenen Ethnien, ohne das Land zu ethnisieren. In den Debatten über Afghanistan ist ständig von „Stammesgesellschaft“ die Rede. Viele glauben anscheinend, dass es den Frieden sichert, wenn jeder „Stamm“ in der Regierung vertreten ist. Zwar ist es nicht falsch, paschtunische Vertreter einzubinden, aber das Denken in Stammeskategorien ist Teil des Problems und nicht seine Lösung. Zumal Afghanistan erst in den letzten zwanzig Jahren durch Krieg und Bürgerkrieg ethnisiert worden ist, indem Anrainerstaaten bestimmte Ethnien förderten.

Auf keinen Fall dürfen die so genannten moderaten Taliban an der Interimsregierung beteiligt werden. Diese Akademikerfraktion der Taliban, die in Pakistan auf ihren Einsatz wartet, ist noch gefährlicher als die analphabetischen Steinzeit-Islamisten um Mullah Omar, weil intelligenter und oft vom pakistanischen Geheimdienst geschult.

Der hungernden und frierenden Zivilbevölkerung muss schnell geholfen werden. Zwar dürfte es hochkompliziert werden, nichtkorrupte Kooperationspartner zu finden, die die Lebensmittel vor Ort verteilen. Dennoch ist das die einzige Chance, die Bedürftigen zu erreichen. Zudem ist jede funktionierende Hilfe die beste Propaganda gegen die Taliban. Nicht nur in den Gebieten der Nordallianz, auch an der Grenze zu Pakistan müssen Schutzzonen errichtet werden. Dort finden kaum Kriegsaktivitäten statt, insofern ist nicht zu verstehen, warum den hunderttausenden Flüchtlingen dort nicht schon längst geholfen wird.

Die UNO muss Friedenstruppen einsetzen, denn die afghanische Gesellschaft kann nicht allein Frieden schaffen. Fast alle Einwohner sind bewaffnet. Gleichzeitig sind fast alle traumatisiert, haben Angehörige verloren, haben seit 23 Jahren Krieg, Massaker und Bombenhagel miterleben müssen. Nicht wenige glauben, sie müssten mit ihren Bürgerkriegsgegnern noch „Rechnungen begleichen“. Dazu darf es nicht kommen. MARIAM NOTTEN

Die Autorin ist afghanischer Herkunft, Soziologin und lebt in Berlin. Sie ist Mitglied der Frauenaktion Scheherazade (www.sheherazade.org), die sich u. a. für eine Internationale Beobachterinnengruppe einsetzt. – Mitarbeit Ute Scheub