In einem gespaltenen Land

von HAKEEM JIMO

Früher kamen in Gusau alle, Christen und Muslime, zu Weihnachten und dem islamischen Zuckerfest zusammen. Heute ist das selten geworden.

So ist die gemischt-religiöse Taufgemeinde der Familie Dogonyaro eine Ausnahme. Der 26-jährige John Dogonyaro und seine 22-jährige Frau Elizabeth haben Freunde und Verwandtschaft zur Taufe ihrer Tochter Miriam eingeladen. Elizabeths Familie entstammt dem nordnigerianischen Haussa-Volk und bekennt sich zum Islam. Elizabeths Vater hatte sich als Einziger seiner Familie von christlichen Missionaren bekehren lassen. Andere haben sich von den Mallams, islamischen Lehrern, überzeugen lassen, wieder andere sind das geblieben, was ihre Ahnen vor der Ankunft beider importierter Religionen waren: Anhänger des traditionellen afrikanischen Glaubens.

Das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen war lange Zeit in Nigeria kaum ein Problem. Doch mit Beginn der Demokratie vor zwei Jahren kam eine bis dahin unterdrückte Unruhe ins Land, mit der Scharia als Speerspitze des Fundamentalismus.

Der Bruch der nigerianischen Gesellschaft begann in der Heimatstadt der Dogonyaros – in Gusau. Hier erhob der Gouverneur des Bundesstaates Zamfara Anfang 2000 den islamischen Werte- und Strafkodex in den Rang des formellen Rechts und gab ihm damit eine neue Bedeutung für das tägliche Leben. Inzwischen sind elf weitere nigerianische Bundesstaaten diesem Weg gefolgt. Juristen streiten noch, ob das der säkularen nigerianschen Verfassung widerspricht.

Zu Anfang waren Christen wie John und Elizabeth Dogonyaro stark verunsichert. Viele aus ihrer Kirche, der Evangelical Church of West Africa, verließen aus Furcht vor Unruhen die Stadt und sind bis heute nicht zurückgekommen. Für Familien wie John und Elizabeth sind Unruhen das Letzte, was sie brauchen: Mit Fernseher, Kühlschrank und Stereoanlage haben sie einen bescheidenen Wohlstand angehäuft, der leicht Plünderungen zum Opfer fallen könnte. Für rund 200 Mark im Monat wartet der 26-jährige John Maschinen für den chinesischen Geschäftsmann Mr. Chang, der in Gusau eine Textilfabrik betreibt. Seine Frau Elizabeth arbeitet als Sekretärin im Abgeordnetenhaus.

Die Prostitution verschwindet . . .

Die Scharia soll gesellschaftliche Missstände beseitigen, Trunkenbolde zum gottesfürchtigen Lebenswandel erziehen, Prostituierte von der Straße vertreiben und Diebstahl und Korruption eindämmen: Ein Viehdieb in Zamfara war der erste, dem eine Hand abgehackt wurde. Ein minderjähriges Mädchen erlitt Anfang dieses Jahres 80 Peitschenhiebe, weil sie nach sexuellem Missbrauch ein uneheliches Kind gebar. Wegen Sex mit einem Siebenjährigen wurde ein Mann im Bundesstaat Kebbi nach der Scharia erstmals zum Tode verurteilt; der Vollzug steht noch aus.

Aufsehen erregt derzeit ein Urteil von Anfang Oktober aus dem Bundesstaat Sokoto, wonach die 33-jährige Safiya Tungar-Tudu gesteinigt werden soll, weil sie sich schwängern ließ, obwohl sie geschieden ist. Die Frau hat sich versteckt und ist in Berufung gegangen.

Diese Affäre ist zum Politikum geworden. Nigerias Bundesregierung verkündete letzte Woche, sie werde eine Vollstreckung des Todesurteils nicht zulassen. Aber Sokotos Justizminister will allein das Gericht über das Schicksal der Frau entscheiden lassen. Sollte das Urteil gegen Safiya am 27. November bestätigt werden, würde es nach dem Gesetz erst dann vollstreckt, wenn die mittlerweile acht Monate alte Tochter nicht mehr an die Brust muss. Dann würde man die Mutter bis zum Hals eingraben und mit Steinen bewerfen, bis sie stirbt.

Solche Vorfälle haben die Berührungspunkte zwischen Christen und Muslimen in Nigeria blutig werden lassen. Schon im März 2000 kam es in der Stadt Kaduna zu Pogromen zwischen Muslimen und Christen. Über 2.000 Tote waren zu beklagen, unzählige Kirchen und Moscheen wurden zerstört. Die nordnigerianische Metropole ist heute praktisch eine geteilte Stadt. Muslime und Christen leben in getrennten Stadtvierteln. Christliche Männer tragen meist westliche Kleidung, während die Muslime den traditionellen Kaftan anlegen, ein langes Gewand mit Kappe. So erkennt man sich, so grenzt man sich ab.

Immer dort, wo die beiden Religionsblöcke geografisch aufeinander prallen, haben sich Pogrome wiederholt – Nigerias Süden ist hauptsächlich christlich, der Norden islamisch. Bei Unruhen in der zentralnigerianische Stadt Jos kamen Anfang Oktober mindestens 500 Menschen ums Leben.

Danach war das nördliche Kano an der Reihe, wo etwa 100 Menschen starben. Dass vergangene Woche in Kaduna wieder mehr als zehn Menschen getötet wurden, das ist in Nigeria kaum mehr als eine Fußnote. Racheakte gegen Muslime im christlichen Süden des Landes kommen noch dazu, doch offizielle Stellen rechnen die Opferzahlen systematisch herunter, um den Hass nicht noch mehr zu schüren.

John Dogonyaro unterscheidet zwischen „primitiven“ und „sozialen“ Muslimen. Die einen seien gefährlich, weil sie sich an das Einzige klammern, was sie haben: die islamische Religion. Die anderen seien eigenständig denkende Individuen, zu denen der soziale Kontakt eigentlich kein Problem sei.

Abdullahi Dangusau würde in die Kategorie der „sozialen Muslime“ passen – der 27-jährige ist mitverantwortlich für die neue Scharia. Viele nennen ihn den Königsmacher von Zamfara. Denn Abdullahi war es, der bei den Wahlen 1999 die Jugend Zamfaras auf Sani Ahmed Jeriman einschwor, den damals nahezu unbekannten Bewerber der von Generälen unterstützten All Peoples Party (APP) für den Gouverneursposten, der nach seiner Wahl die Scharia einführte.

Abdullahi sagt, er sei schon immer von der Integrität Jerimans überzeugt gewesen. Auch jetzt glaube er noch an dessen gute Absichten, sagt Abdullahi. Das Problem sei nur, dass der Gouverneur manchmal auf die falschen Leute setze. So gibt es in Zamfara kein nigerianisches Staatsfernsehen mehr, weil Jeriman das Geld für die Wartung der Übertragungsstation nicht bewilligt. Im Radio laufen nur islamische Programme.

Solche Ungerechtigkeiten prangert Abdullahi nun in seinen beiden Monatsmagazinen The Message und Haske („das Licht“ auf Haussa) an. Am Anfang sei die Scharia Mittel zu Sani Ahmeds politischer Profilierung gewesen, sagt er. Inzwischen erscheint sie manchen als Allheilmittel für die Probleme des Landes. Dabei ist der Norden Nigerias arg rückständig, was Industrialisierung und Bildung angeht.

. . . die Korruption aber bleibt

Wenig hat die Scharia bislang gegen die notorisch korrupte Machtclique des Nordens ausrichten können: Zamfaras Gouverneur Ahmed Sani müsste sich wegen dubioser Immobiliengeschäfte eigentlich vor einem Scharia-Gericht verantworten – aber das Verfahren kommt nicht in Gang.

Deshalb bezeichnet Nigerias Präsident Olusegun Obasanjo die Wiederentdeckung der Scharia als „politisches Manöver“. Er beschuldigt die Scharia-Propagandisten aus dem Norden, dass sie mehr Einfluss auf die Zentralregierung erzwingen wollen. Aber eine politische Scharia werde sich früher oder später abnutzen, sagt Obasanjo, der seit über zwanzig Jahren erste christliche Präsident Nigerias.

In Gusau jedenfalls hat Sani Ahmed das Gesicht der Stadt verändert. Frauen dürfen nicht mehr auf Motorräder steigen – das billigste öffentliche Verkehrsmittel. Auch Mann und Frau nebeneinander im Taxi oder im Bus ist verboten. Nun stellt die „Christliche Vereinigung Nigerias“ Motorräder und Taxis zur Verfügung, die weiterhin für Männer und Frauen offen sind.

Theoretisch könnten John und Elizabeth Dogonyaro die Taufe ihrer Tochter mit Alkohol begießen, weil die Scharia nur für Muslime gilt. Aber sie tun es nicht. Nicht aus Angst vor der eigens eingesetzten Sharia-Polizei, sondern weil sie wiedergeborene Christen sind.