Hilfswerke kehren zurück

Der Abzug der Taliban aus zahlreichen Städten weckt neue Hoffnungen vor Ausbruch des Winters. Doch es gibt auch Probleme

von BERNARD IMHASLY

Die militärischen Erfolge der Nordallianz im Lauf der vergangenen Woche haben die Hoffnung geweckt, dass die schwersten Auswirkungen des drohenden Winters für eine hungernde und kriegsversehrte Bevölkerung doch noch vermieden werden können. Doch der andauernde Taliban-Widerstand im Süden des Landes sowie die schwelenden Spannungen zwischen den Anti-Taliban-Kräften im Grenzgebiet zu Pakistan sorgen dafür, dass die Lage für die Hilfswerke konfus bleibt und die angestrebten Ziele unerreichbar bleiben könnten.

Nirgends werden die Widersprüche deutlicher als an den Grenzübergängen nach Pakistan. Diese sind zwar offiziell nach wie vor geschlossen, dennoch findet ein reger Grenzverkehr statt – nunmehr in beide Richtungen. Am letzten Wochenende sind über hundert Kleinlastwagen über den Khyberpass gerollt, mit Flüchtlingen, die in ihre afghanische Heimat zurückkehrten. Zu ihnen gesellten sich auch Mudschaheddin, die aus ihrem Exil in Peschawar aufbrachen, um die von den Taliban geräumten Machtpositionen einzufordern.

Im weiter südlich gelegenen Quetta hingegen nahm die Zahl der Flüchtlinge in Richtung Pakistan noch zu. Beobachter sprachen allerdings von vielen jungen wohlgenährten Männern, die sich in die Kolonnen von Frauen, Kindern und Verwundeten einreihten. Sie gaben sich als Opfer der Taliban aus, mochten aber ebenso gut selber Taliban sein. Obwohl Pakistan seine Grenzüberwachung massiv aufgestockt hat, hat das UNO-Flüchtlingswerk die Befürchtung geäußert, dass sich Taliban in Lagern einnisten könnten.

Was in der letzten Woche an den Grenzübergängen nicht abgefertigt wurde, waren größere Konvois mit Hilfsgütern. Dies hing mit der Weigerung zahlreicher Spediteure zusammen, sich angesichts der Umwälzungen in den afghanischen Ostprovinzen auf die Straße zu begeben. Das Ausbleiben von Nahrungsmittel-Konvois barg aber auch eine gute Nachricht: Bis Mitte des Monats hatte das UNO-Welternährungsprogramm (WFP) 75 Prozent seiner Lieferungen für den November bereits in die großen Lager in den Verkehrszentren geliefert. Insgesamt muss das WFP 27.000 Tonnen Getreide ins Land schaffen, um zu verhindern, dass rund eine halbe Million Menschen verhungern. Dies ist auch eine Geldfrage. Bis März 2002 braucht die UNO 600 Millionen Dollar, um ihr Afghanistan-Hilfsprogramm zu finanzieren. Bisher hat sich die Weltgemeinschaft trotz lautstarken Bekenntnissen der Solidarität nur zur Zahlung von vierzig Prozent dieses Betrags verpflichtet.

Doch das ist nicht das einzige Problem. Wesentlich schwieriger dürfte es nun sein, das Getreide von den regionalen Lagern in die abgelegenen Regionen zu transportieren. In der ernsthaft gefährdeten zentralen Hazarajat-Region kam letzte Woche nur ein einziger Lastwagen an. Probleme bietet auch die Fehlpanung in Bezug auf die Transportwege. Ein Großteil der Hilfsgüter lagert in Pakistan, und dort existiert eine über die Jahre eingespielte Infrastruktur, nicht zuletzt auf Seiten der pakistanischen Behörden. Die politischen und militärischen Entwicklungen zwingen nun zu einem Umstellen der Transportwege vom Osten auf den Norden. Vorräte aus Quetta werden nun nach Turkmenistan und Usbekistan geflogen. Dort fehlt aber eine eingespielte Logistik, sowie oft auch Kompetenz und Verständnis bei den lokalen Behörden. So sperrt Usbekistan weiterhin die einzige Brücke über den Grenzfluss Amu-Darja und Hilfsgüter werden auf Fähren übergesetzt.

Das Nachlassen und zunehmend auch die Umkehrung der Flüchtlingsbewegung setzt bei den Hilfswerken personelle Kapazitäten frei, die sie nun, nach dem Rückzug der Taliban aus weiten Teilen des Landes, in diesem kritischen Augenblick wieder im Innern Afghanistans einsetzen können. Dies geht einher mit einer Verbesserung der Zusammenarbeit mit den neuen Behörden, was sich auch an einem Rückgang von Plünderungen niederschlägt. Mit den ausländischen Mitarbeitern kommen auch Fahrzeuge und Kommunikationsmittel wieder ins Land und garantieren eine bessere Koordination für die Hilfe an die Hunderttausenden von Menschen, die im Innern des Landes immer noch auf der Flucht und von Hunger bedroht sind.