Scheiße. Text vergessen.

■ Helge Schneider bezauberte mit seiner Jazz-Komik in Oldenburg, Popoldenburg. Was er anfasst, wird zu Gold

„Do not fear mistakes. There are none“, soll Miles Davis mal gesagt haben. Diese kurze Aussage enthält nicht weniger als die Essenz guter Kunst „in a nutshell“, wie der Angelsachse sagt. Im freien Fluss der Improvisation kann nichts falsch sein. Die Improvisation setzt voraus, dass man es in seinem Handwerk zu einer Meisterschaft gebracht hat, die es einem erlaubt, die formalen Fesseln abzustreifen, ohne sie zu leugnen.

Helge Schneider ist ein Jazzer durch und durch. Seine Shows sind Jazz-Komik. Er steht da mit hängenden Schultern, völlig entspannt. Und alles was er macht, ist komisch. Er kann keine Fehler machen, außer den Fehler, seine wilde, anarchische Komik fesseln und kontrollieren zu wollen. Aber dazu ist er mittlerweile zu weise. Sicher, er hat gewisse Standards, gewisse Stilmittel, auf die er zurückgreift, sowohl musikalisch als auch komisch. Das Publikum honoriert es mit Klatschen und Johlen, wenn er einen alten Song anstimmt. Aber Schneider spielt diese Songs nicht herunter, weil das Publikum sie hören will, er zelebriert sie. Er verfremdet sie musikalisch oder textlich bis zur Unkenntlichkeit, rearrangiert die Pointen, und manchmal sagt er auch grinsend: „Scheiße, Text vergessen. Anderes Lied.“ Er benutzt die Bausteine seiner Komik wie ein Kind seine Bauklötze: jedesmal kommt ein neues Gebilde dabei heraus.

Schneider ist König Midas. Alles was er anpackt, wird zu Gold. Er greift sich eine Ausgabe von „Wendy“ und liest daraus vor. Dann entschließt er sich, den Fotoroman zu einem Musical zu verwursten. Oder er erzählt die Geschichte von den grausamen Klavierstunden des jungen Beethoven und setzt sich darauf ans Klavier, um mal eben die „Mondscheinsonate“ anzustimmen, die unmerklich in „Für Elise“ und dann in „Ballade pour Adeline“ übergeht. Er spielt gleichzeitig Klavier und Schlagzeug oder Klavier und Trompete. Egal ob Klarinette, Saxophon, Synthesizer, Gitarre, Schneider kann und macht alles Und egal ob Flamenco oder „Star Spangled Banner“: es ist immer frei und gegenwärtig und witzig.

Ein ums andere Mal stockt einem der Atem vor Bewunderung seiner Meisterschaft, falls sich das Stocken des Atmes mit dem gleichzeitigen Lachen verträgt. Vielleicht besser so: der Körper lacht und der Geist schüttelt grinsend und perplex den Kopf. Helge Schneider ist ein großer Entertainer, der den anderen „letzten großen Entertainern“ sowie den meisten seiner Kollegen aus der Comedy-Zunft eines voraus hat: er ist nicht berechenbar. Rüdiger Hoffmann, Dieter Nuhr & Co. haben ein streng durchgeplantes Programm mit exakt gebauten Pointen. Schneider hingegen ist so überraschend, dass er sogar sich selbst überrascht und unversehens über seine eigenen Einfälle lacht. Das sind großartige Momente. Man spürt, wie Schneider innerlich zurücktritt und sein soeben aus der schöpferischen Leere entsprungenes Werk betrachtet, wie er für einen Moment vollkommen realisiert, was er da eigentlich tut – und sich wie ein Kind darüber freut. Es gibt genügend professionelle Handwerker, die auch gelegentlich Schönes hervorbringen, aber nur wenige Künstler. Helge Schneider ist einer von ihnen. Danken wir dem schöpferischen Nichts für ihn. Tim Ingold