Wozu noch reden?

■ „Einfach das Ende der Welt“ von Jean-Luc Lagarce in einer grandiosen Erstaufführung am Bremer Theater

Wie sieht das eigentlich aus, wenn zwei (oder mehrere) Menschen aneinander vorbei reden? Den stereotypen, von kindischem Egozentrismus zeugenden Klang solcher „Dialoge“ kennt ja jeder von uns zur Genüge. Nur ist Jean-Luc Lagarces „Einfach das Ende der Welt“ eben kein Hörspiel, sondern ein Theaterstück, etwas zum Hören – und zum Gucken.

75 Minuten lang reden Lagarces Figuren hier aneinander vorbei; mehr passiert letztlich nicht. Am Bremer Theater hält man das letzte von etwa zwanzig Stücken des Autors indes so hoch, dass man seine deutschsprachige Erstaufführung (Übersetzung: Uli Menke) jetzt zum einsamen Höhepunkt einer großangelegten Veranstaltungsreihe um und über das französische Theater der Gegenwart stilisierte. Nicht umsonst sei der Erfolg der Uraufführung im Herbst 2000 am ThéÛtre de la Colline zu Paris in der Inszenierung von Joel Jouannot „ungeheuer“ gewesen.

Und in der Tat: Mit „Einfach das Ende der Welt“ hat Jean-Luc Lagarce, 1995 38-jährig an Aids gestorben, der Nachwelt ein ebenso tragisches wie komisches Theaterstück hinterlassen, dessen Halbwertszeit die manch eines Stückes der hierzulande derzeit so hoch gehandelten britischen Autoren des „New Writings“ um Jahrzehnte übertreffen dürfte. Die eigene Ausgangssituation – das Todkranksein, das Schwulsein, das Schriftsteller-sein hat Lagarce – auch in dieser Reihenfolge – gleichfalls zur Ausgangssituation seines Erzählers Louis erkoren. Vor Jahren schon hat der sich von seiner Familie gelöst und damit begonnen, als Schriftsteller durch die Lande zu reisen. Jetzt, im Alter von 34 Jahren, hat Louis den Tod unmittelbar vor Augen und möchte sich seiner unwissenden Familie mitteilen. Noch einmal, zum letzten Mal, kehrt er ins Elternhaus zurück. Doch dort hat sich nichts geändert. Louis' Mutter, seine Schwester Suzanne, sein Bruder Antoine sowie dessen Frau Catherine belauern einander in derselben Weise, die Louis einst aus dem Haus getrieben hat. Zumal er derjenige ist, der am massivsten belauert wird und immer schon wurde: Mamas Liebling. Vage Vorwürfe stehen teils ausgesprochen, teils unausgesprochen im Raum, Erwartungshaltungen werden offensichtlich. Während sich etwa die Familie angeblich seit jeher gewünscht hat, dass Louis doch zuhause bleiben, beziehungsweise zurückkehren möge, konstatiert der verlorene Sohn verbittert: „Ich wachte mit dieser seltsamen... Idee auf, daß man mich lebend schon liebte, wie man mich tot lieben wollen würde.“ Und so reden sie fortwährend aneinander vorbei, glauben, sich zu kennen, und tun es doch nicht.

Regisseur Wolfram Apprich und Bühnenbildnerin Sabine Mader haben die Bühne in sechs etwa gleichgroße „Zimmer“ unterteilt, in denen sich die Familienangehörigen Louis wie die Affen eines Zoos im gläsernen Käfig vor den Zuschauern präsentieren - oder besser gesagt: präsentiert werden. Denn davor, zwischen Familie und Publikum also, moderiert Louis höchstselbst das Geschehen, mal in die „Handlung“ eingreifend, dann wieder vor der Bühne stehend, dem Publikum zugewandt. Doch auch ohne diese Lageberichte aus erster Quelle ist schnell klar: Dieser Familie vom nahen Tod oder auch nur von der eigenen Homosexualität zu erzählen – jetzt noch, mit 34! –, wäre sinnlos, reine Zeitverschwendung. Erst recht in dieser Inszenierung. Mit minimalistischer Konsequenz hat Wolfram Apprich die Quintessenz aus der Textvorlage gezogen und sie entsprechend schnörkellos auf die Bühne transportiert. Bei ihm reden Lagarces Figuren im Wortsinn aneinander vorbei, indem sie sich nämlich nicht einmal ansehen. Wie auch, sind sie doch zumeist durch ihre Zimmerwände voneinander getrennt? - Diese Wände sind übrigens rosarot gestrichen; es gilt ja der „Familienidylle“ gerecht zu werden!

Unter solchen Umständen ist ein vernünftiges Gespräch schlechterdings unmöglich. Louis trägt denn auch während der gesamten Aufführung seinen schwarzen Mantel, legt ihn selbst dann nicht ab, wenn sich einmal kurz immerhin so etwas wie die Chance zum Dialog zu bieten scheint. Sein letzter Besuch daheim und die theoretisch sogar mögliche Rückkehr entwickeln sich für Louis zur unversöhnlichen, müßigen Stippvisite. Eine solche ist der Besuch von Jean-Luc Lagarces„Einfach das Ende der Welt“ im Bremer Theater dagegen gewiss nicht – im Gegenteil!

Monica Bilse

„Einfach das Ende der Welt“ wird morgen um 20 Uhr und am Sonntag, 25. November um 15.30 Uhr im Schauspielhaus.