Im freien Raum der Geschlechter

Frauen erobern das globale Internet für ihre Interessen und fragen sich dabei, wer sie selbst sind: In Berlin versuchte ein Kongress der Heinrich-Böll-Stiftung, herauszufinden, ob und wie das Internet für feministische Politik genutzt werden kann

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Die Heinrich-Böll-Stifung steht den Grünen nahe und hatte deshalb am vergangenen Wochenende ein Problem. Keine einzige Sprecherin dieser Partei ließ sich auf das Podium der Konferenz bewegen, die dem Thema „feminist_spaces“ gewidmet war. Die Furcht vor peinlichen Fragen nach der Rolle der grünen Fraktion im Regierungslager war zu groß, und damit war die Chance vertan, dass ebenjene in der traditionellen Medienöffentlichkeit gut wahrnehmbaren Politikerinnen über ihre tagesaktuelle Aufregung hinaus zur Kenntnis nehmen, was feministische Politik sein könnte. Ganz sicher keine Beschwörung moralischer Grundsätze und humanitärer Hilfe. Es ist kein Zufall, dass die zuverlässigsten und umfassendsten Informationen über die Herrschaft der Taliban wie auch der Kriegsherren der Nordallianz in Afghanistan auf der Website der „Revolutionary Association of the Woman of Afghanistan“ (RAWA, www.rawa.org) zu finden sind. Die feministischen Räume im Internet sind Freiräume des eigenen Denkens und des Selbstbewusstseins.

Die Liste der Organisationen von Frauen, die sich im Web weltweite Plattform geschaffen haben, ist lang. Die australische Feministin Wendy Harcourt, die heute in Rom lebt, gab der Diskussion ein Stichwort vor, an dem sie sich immer wieder festbeißen sollte: Auch diese Beispiele virtueller feministischer Politik sind ein Spiegel jener realen Globalisierung, die ohne dieses Medium gar nicht möglich wäre. Frauen jedoch, so hat Wendy Harcourt erkannt, wollen in ihrem lokalen Umfeld handeln; eher als Männer versuchen sie daher, den virtuellen Raum zurückzubeziehen auf den realen Ort ihres Lebens. Vier Themenfelder sind es, die Feministinnen global im Web besetzen, weil sie lokal davon betroffen sind: der eigene Körper, die eigene Familie, die Umwelt und die jeweils dominierenden sozialen Regeln.

Wendy Harcourt möchte den Begriff „glocal“ für diesen eigensinnigen weiblichen Zugriff auf das Internet verwenden. Was er genau bedeuten könnte, war in dem einen, mit Diskussionen und Referaten voll gestopften Samstag natürlich nicht hinreichend aufzuklären. Leider war auch dem Schlussvortrag des einzigen männlichen Referenten nichts Erhellendes zu entnehmen. Die Böll-Stiftung hatte Manuel Castells aus Berkeley eingeladen, den Autor eines dreibändigen Werks über die Informationsgesellschaft, dessen erster Teil soeben in Deutsch erschienen ist. Castells, der ohnehin auf Lesereise in Deutschland ist, überraschte die erwartungsvoll lauschenden Teilnehmerinnen mit der These, dass Ende der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhundert gleich zwei Revolutionen stattfanden: die Revolution der Informationstechnik und eine Revolution des Selbstbewusstseins der Frauen.

Virtuelle Personen

Offenbar war dem Soziologen entgangen, dass die Frauenbewegung seit über hundert Jahren zumindest das Bewusstsein der westlichen Gesellschaften verändert. Was aber ist von der anderen Revolution zu halten, die tatsächlich in jenen legendären Sechzigerjahren begann? Die Referate und Arbeitsgruppen sprachen nicht für Castells optimistische Meinung, das Pentagon habe damals ein Medium des freien Austauschs von Informationen in Auftrag gegeben. Die Architektur eines Computernetzes, in dem jedes Datenpaket auch eine Information über seinen Adressaten enthält, verringert lediglich das Gefälle zwischen Sendern und Empfängern. Wie die zahllosen Zensurfälle, aber auch krimineller Missbrauch zeigen, ist das Internet deshalb noch lange kein technisch garantierter Ort der Freiheit für Frauen – schon gar nicht, wenn sie das Pech haben, in Afrika zu leben. Mercey Wambui, Mitarbeiterin der United Nations Economic Commission for Africa (Uneca) in Addis Abeba, gab eine mit harten Zahlen untermauerte Schilderung des Ausbleibens jener Revolution, von der man in Berkeley so blauäugig schwärmt.

Es gibt keine Revolution des Internets, meint Mercey Wambui und fordert eine weit komplexere Entwicklung aller Kommunikationsmittel für ihren Kontinent. Sie setzt auf eine Kombination lokaler Radiostationen, Telefonzentren, Maildienste, Funkverbindungen und Computerterminals in öffentlichen Gebäuden. An jeder Stelle haben Frauen ihre Forderungen anzumelden, ihre Befreiung jedoch kann offenbar nicht die Folge einer technischen Erfindung sein.

Im reichen Westen hat Gillian Youngs, Dozentin an der Universität Leicester, Großbritannien, über die Vermittlung feministischer Inhalte hinaus Beobachtungen gemacht, die sie „philosophisch“ nennt. Der virtuelle Raum stellt eine neue Frage nach der Identität, Er ist kein bloßer Raum der Information oder der Selbstorgansition von Interessen, vielmehr hängt die Glaubwürdigkeit jedes Beitrags davon ab, ob die Autorin sagen kann, wer sie selbst ist. Die Antwort kann nun ganz anders ausfallen als in der Realität, und darin könnte eine Chance der Befreiung liegen, vermutet Gillian Youngs. Frauen definieren sich anders, wenn sie als virtuelle Personen auftreten, sie erproben ihre Talente, und erst so gewinnt Wendy Harcourts Begriff des lokalen Handelns im globlen Raum an Schärfe. Frauen nutzen das Web nicht nur, um darin ihre Realität abzubilden, sie entwerfen ein neues Bild von sich selbst.

Mag sein, dass dieser zu jeder Emanzipation nötige Prozess des Selbstbewusstseins gerade den Frauen im Internet leichter fällt. Die Programmiererin Amy Bruckman von der Technischen Universität Georgia jedoch warnte vor Vorurteilen auf Seiten der feministischen Forschung. Sie hat Lernspiele programmiert und dabei versucht, den Geschlechterunterschied statistisch zu messen. Es ist ihr nicht so recht gelungen: Die Kurven gleichen sich in fast jedem Fall. Lediglich der Umstand, dass amerikanische Jungen früher einen Computer in die Hand bekommen, verschafft ihnen einen kleinen Startvorteil gegenüber den Mädchen, die das dadurch kompensieren, dass sie schneller zu anwendbaren, praktischen Lösungen kommen als Jungen.

Natürlich ist auch Amy Bruckman die männliche Vorherrschaft in der Computerwelt nicht entgangen. Mit einem Spiel nach dem Vorbild des Turing-Tests macht sie sich lustig darüber: Es besteht darin, mit Fragen herauszufinden, welches Geschlecht ein virtueller Gesprächspartner hat. Der Unterschied ist illusorisch, denn die Antworten gibt ein Computer. niklaus@taz.de