Tradition verdrängt dritten Weg

In den Leitanträgen spielt Modernisierung à la Tony Blair keine Rolle mehr: Sozialdemokraten entdecken Mitbestimmung und Vollbeschäftigung neu

aus Nürnberg RALPH BOLLMANN

Jetzt also doch. „Es hat keinen Zweck, darum herumzureden“, sagt Finanzminister Hans Eichel mit heiserer Stimme: „Wir wissen, dass die Arbeitslosigkeit wieder über die Vier-Millionen-Marke gehen wird.“ Es ist ein Eingeständnis, mit dem sich die SPD bis zuletzt schwer getan hat. Jetzt hat die Partei das Versprechen, die Zahl bis zur Bundestagswahl auf 3,5 Millionen zu drücken, endgültig zu den Akten gelegt. Seit gestern ist nur noch davon die Rede, den Wert „deutlich abzusenken“ – auch wenn man „mehr Zeit dafür brauchen“ werde, wie es die Delegierten mit dem Leitantrag zur Beschäftigungspolitik beschlossen.

Konsequenzen will Eichel allerdings nicht daraus ziehen. Das magische Wort „Konjunkturprogramm“, bei der SPD nicht weniger tabu wie bei der CDU die „K-Frage“, nahm der Finanzminister gestern nur ein einziges Mal in den Mund – in Form einer ungläubigen Frage: „Sollen wir etwa ein Konjunkturprogramm auflegen?“ Die Antwort lieferte der Sparkommissar gleich mit: „Wir werden nicht von der Finanzplanung abweichen.“

Stattdessen definiert Eichel nun Programme, die schon längst beschlossen sind, zum Beschäftigungsprogramm um. Steuerreform, Kindergeld, Stadtumbau Ost – das alles summiere sich, so rechnet Eichel vor, auf rund 20 Milliarden Mark. Und statt der stetig steigenden Arbeitslosigkeit will der Minister nun die Zahl der Arbeitsplätze zum Maßstab machen, die seit dem Regierungswechsel 1998 immerhin um eine Million angestiegen sei.

Jene Linken in der SPD, die nach einem Konjunkturprogramm gerufen hatten, erhielten nur ein einziges Zugeständnis. Die Bundesregierung soll prüfen, „in welchem Umfang im nächsten Jahr Investitionen vorgezogen werden können“. Das genügte, um dem Leitantrag der Parteiführung die fast einstimmige Annahme zu sichern. Wie beim Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr konnte Schröder die SPD erneut auf seine Linie bringen, ohne substanzielle Abstriche machen zu müssen.

Nur die Genossen vom traditionell linken SPD-Verband Hessen-Süd sahen in dem eingefügten Satz schon den ersehnten Kurswechsel. Doch Eichel stellte klar: Zusätzliches Geld gibt es nicht. Er wolle nur dafür sorgen, dass das bereits eingeplante Geld für Straßen- und Schienenprojekte tatsächlich verbaut wird. Da half die mit Applaus bedachte Mahnung des Parteilinken Detlev von Larcher wenig, man dürfe doch „in einen Abschwung nicht hineinsparen“. Am Vortag hatten viele Delegierte in der Gewissensfrage des Kriegseinsatzes zurückgesteckt, um die Autorität des Kanzlers und damit die rot-grüne Koalition nicht zu gefährden. Wie hätten sie es dann bei einer moralisch weniger gewichtigen Frage wie einem Konjunkturprogramm wagen sollen, dem Weltpolitiker Schröder in den Arm zu fallen?

Die Einmütigkeit fiel den Sozialdemokraten um so leichter, als sich auch aus dem Leitantrag „Sicherheit im Wandel“ eine klare Absage an die FDP herauslesen lässt. Der bereits im Frühjahr formulierte SPD-Leitantrag, mit dem die Partei in den Bundestagswahlkampf ziehen will, betont wieder die traditionellen Werte – von der Mitbestimmung bis zur Krankenkasse. Weitere Reformen müssen bis zum Wahltermin warten.

FDP-Parteivize Rainer Brüderle hatte pünktlich zum SPD-Parteitag „Eckpunkte“ liberaler Wirtschaftspolitik vorgelegt. Sie enthalten eine Absage an alles, was den Sozialdemokraten bislang als heilig galt – vom Abbau der Mitbestimmung bis zur Streichung der Kohlesubventionen. Eichel kanzelte das rheinland-pfälzische „Stiefbrüderle von Kurt Beck“ prompt ab. Der FDP-Mann solle sich lieber „um den Weinbau in der Pfalz kümmern“.

Schröders britischen Amtskollegen Tony Blair hatten die Delegierten am Vortag zwar bejubelt. Doch von der Politik des „dritten Weges“, die New Labour praktiziert, wollen die deutschen Genossen nicht mehr viel wissen. Statt von den Chancen des beschleunigten Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft ist jetzt viel von den „Ängsten“ die Rede, die man ernst nehmen müsse. Die aktive Arbeitsmarktpolitik soll ausgebaut werden, und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verspricht, es werde bei der Krankenkasse keine Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen geben.

Und dann sagt die Ministerin noch, die Gesundheitspolitik müsse ungeachtet aller finanziellen Zwänge weiter „alles tun, um Schmerzen zu bekämpfen“. Das könnte auch der Slogan sein, mit dem die SPD von Nürnberg aus in den Wahlkampf zieht. Bis zum Wahltermin sollen die Betäubungsmittel reichen.