Bis zum letzten Bart

Die Taliban sind jetzt auf ihre Bastionen Kandahar und Kundus reduziert. Aber die verteidigen sie gut

von BERNARD IMHASLY

Das von den Taliban beherrschte Gebiet, das vor zwei Wochen noch über 80 Prozent afghanischen Territoriums reichte, ist auf etwa 10 Prozent geschrumpft. Die Taliban üben ihre Macht nur noch in den Enklaven um die Städte Kandahar im Süden und Kundus im Norden aus. Journalisten, die in den letzten Tagen von der pakistanischen Stadt Quetta nach Spin Boldak in der Provinz Kandahar fuhren, berichten, dass die schwere Hand der Koranschüler selbst dort nicht mehr spürbar ist, wo vor sieben Jahren ihr Siegeszug begann. Das Schrumpfen des Machtbereichs der Taliban bedeutet allerdings nicht, dass das Konfliktpotenzial abgenommen hätte – im Gegenteil. Tausende von Taliban haben sich aus anderen Provinzen nach Kandahar und Kundus zurückgezogen, und zu ihnen gehören die Kerntruppen des Talibanführers Mullah Omar sowie Söldner aus vielen islamischen Ländern.

Was das heißt, zeigt sich deutlich in der militärischen Lage um Kundus, die Stadt, welche die weite Ebene der nordafghanischen Grenzregion nach Tadschikistan beherrscht und das Tor in die Gebirgstäler im Süden bildet. Die Taliban wurden mit dem Zusammenbrechen ihrer Koalitionen im Norden auf diese strategisch wichtige Stadt zurückgedrängt und sind seit einer Woche dort eingeschlossen. Seitdem wird Kundus von der Artillerie der Nordallianz und noch härter von der US-Luftwaffe bombardiert.

Allerdings sind die Luftschläge und besonders die Artilleriesalven in den letzten Tagen deutlich zurückgegangen. Beide Parteien versuchen, eine kampflose Übergabe der Stadt auszuhandeln. Sie wissen, dass eine offene Straßenschlacht ein Blutbad auf beiden Seiten anrichten würde, da Feuerkraft und Moral der Angreifer aufgewogen werden durch die Kampfbereitschaft der ausländischen Truppen auf Taliban-Seite. Diese sind sich bewusst, dass sie von ihrem Gegner kein Pardon erwarten können. Mehrere Ultimaten an die Taliban zur Aufgabe von Kundus sind ergebnislos verstrichen. Die bisherigen Verhandlungen scheiterten an der Frage, wie die Söldner zu behandeln seien. Die Nordallianz wäre bereit, den afghanischen Taliban eine Amnestie zu gewähren, wie sie dies bei Überläufern in den letzten Tagen demonstriert hat. Die Ausländer dagegen können nicht auf freies Geleit aus der Stadt und noch weniger aus Afghanistan hinaus zählen, sondern müssen mit Lynchjustiz rechnen.

Die ausländischen Kämpfer, die offenbar das Kommando der Verteidigung von Kundus übernommen haben, scheinen sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Dies suggerieren jedenfalls die Berichte von Überläufern, die von der Erschießung mehrerer hundert afghanischer Taliban sprechen – zur Abschreckung vom Fahnenwechsel. Das letzte Wort ist allerdings noch nicht gesprochen. Die Verhandlungen gehen weiter, und in Pakistan suggerieren Presseberichte, dass Präsident Pervez Muscharraf auf London und Washington eingewirkt hat, damit diese ein Massaker in Kundus verhindern.

Die Sorge Islamabads gründet, so Beobachter, vor allem in der Vermutung, dass rund 1.000 der auf über 12.000 geschätzten Verteidiger von Kundus Pakistani sind. Viele von ihnen sollen reguläre pakistanische Soldaten sein, und ihr Tod, insbesondere ihre summarische Hinrichtung, würde in der Armee in der Heimat heftige Reaktionen auslösen, die der regierende Armeegeneral Muscharraf nicht einfach ignorieren kann. Die Nordallianz hatte am Wochenende Pakistan beschuldigt, mit Hubschraubern Offiziere aus der Stadt herausgeholt zu haben.

Im Unterschied zu Kundus stehen vor Kandahar, der Taliban-Hochburg im Herzland der Paschtunen im Süden Afghanistans, keine Truppen der Nordallianz. Auch die königstreuen Paschtunen unter Hamid Karazai, die in der nahen Provinz Urusgan die Taliban abgelöst haben, können sich keinen Angriff auf die Stadt leisten. Stattdessen kam es in der letzten Woche zu einer Reihe von Kontakten mit Paschtunenführern, vor allem solchen, die den Taliban früher nahe standen, aber offenbar auch mit Karazai. Ein Taliban-Sprecher erklärte aber am Mittwoch in Spin Boldak, die Taliban hätten nun beschlossen, Kandahar mit allen Mitteln zu verteidigen, ebenso wie Kundus.

Die einzigen Angriffe auf Kandahar kommen aus der Luft, und auch diese haben in den letzten Tagen abgenommen. Dies mag damit zusammenhängen, dass die USA nicht mehr sicher sind, ob Taliban-Führer Mullah Omar sich noch in der Stadt aufhält, obwohl dieser erklärt hat, in Kandahar zu bleiben bis zu seinem Tod.