Und wieder eine Bärenmeldung!

Alltag in der Wahrheit-Redaktion: Die Welt ist schlecht, und Komik sucht man in ihr vergebens

von CAROLA RÖNNEBURG

„Wahrheit-Redaktion?“, fragte meine Mutter damals, als ich ihr von meiner neuen Stelle berichtete. „Was musst du denn da machen?“ In der Hauptsache wohl „lustige Texte heranschaffen und schreiben“, behauptete ich. Da wusste ich noch nichts vom Alltag eines Wahrheit-Redakteurs.

Wahrheit-Redakteure sind vielfältigen Belastungen ausgesetzt. Da ist zum einen die Arbeitssituation: Exakt 1,5 Personen sind dafür zuständig, 6 Wahrheit-Seiten in der Woche mit ansprechenden Texten zu versorgen. Trotz großer Versprechungen hat sich daran bis heute nichts geändert – es empfiehlt sich also, nicht nur den Urlaub rechtzeitig anzumelden, sondern auch die jährlich Grippe. Seit 1996 dürfen Wahrheit-Redakteurinnen außerdem keine Selters-Kästen mehr tragen, die ihnen auf die Füße fallen und sie für sechs Wochen außer Gefecht setzen könnten. Doch auch eine vollzählige Wahrheit-Redaktion hat alle Hände voll zu tun: Wenn der Aufmacher redigiert und die Kolumne geliefert ist (vgl. S. VII), müssen die kleineren Rubriken noch mit sehr vielen Buchstaben gefüllt werden. Also wirft man einen Blick in die Meldungen der Nachrichtenagenturen, die immer noch „Ticker“ heißen, obwohl sie inzwischen vollkommen geräuschlos daherkommen, und sucht nach Kuriosem. Manchmal wird man schnell fündig. Ein englisches Ehepaar mit rudimentären Erdkundekenntnissen wollte nach Gerona reisen, buchte aber einen Flug nach Genua (und wunderte sich angesichts der vielen rotweißgrünen Flaggen über die zahlreichen italienischen Eisdielen in Spanien): Herrlich! Ein japanischer Bauer vertreibt einen Schwarzbären mit Kung-Fu-Technik: Wunderbar! Nur jeder dritte ostdeutsche Haushalt mit einem Monatseinkommen unter 2.000 Mark plant eine Urlaubsreise, staunt ein Forschungsinstitut, das offenbar umfragen, aber nicht rechnen kann: Jawoll! Das ist ja nicht nur eine Meldung wert, das ist ein Fall für die „Gurke des Tages“!

Stück für Stück entsteht so die Seite, wir teilen uns die Arbeit auf und unterhalten uns dabei in dem seltsamen Jargon, der Außenstehenden wie eine Geheimsprache vorkommt: „Wenn du schon mal das Oben machst, kümmere ich mich um die Spalte.“ – „Gut, und guck doch bitte mal, ob das hier gurkentauglich ist.“ Gut, dass meine Mutter mich nicht hören kann.

An anderen Tagen aber ist das Wahrheit-Redakteursleben ein grausames. Ein einziger Text ist fertig, die Kolumne angeblich in der Gewalt eines bösen Servers (vgl. S. VII) und die Nachrichtenlage entmutigend. 300 Tote bei Schiffsunglück in Thailand, Massenkarambolage auf der A 8, Mutter sperrt Kind drei Wochen in Kleiderschrank – die Welt ist schlecht, Komik sucht man in ihr vergebens, und wenn man richtig Pech hat, ist die eigene Gemütslage zusätzlich durch Liebeskummer o. Ä. geprägt. Die Zigaretten sind auch alle.

Schon drängt die Zeit, nur noch wenige Minuten bis Redaktionsschluss. Erneutes Suchen im Ticker. „Rund 40 von 100 amerikanischen Wissenschaftlern glauben an Gott“, weiß dpa zu berichten. Nun ja. Lustig ist das nicht. Warum zum Teufel passiert heute überhaupt nichts Albernes? Dann, endlich, ein Lichtblick: Heinrich Lummer tut es sehr Leid, dass er mit 1,96 Promille Auto gefahren ist – das hat doch was und ist ausbaufähig. Und: Im sibirischen Tomsk ist ein Bär durch die Innenstadt gewandert und hat sich von furchtlosen Kindern mit Marmelade und Keksen füttern lassen. Damit es keine Dubletten in der Zeitung gibt, teilen wir den Chefs vom Dienst mit, welche Meldungen auf der Wahrheit erscheinen sollen: „Wir nehmen Lummer und den Bären.“ Richtig glücklich sind wir nicht.

In solchen Momenten biegt dann gewöhnlich auch noch ein Kollege um die Ecke, der einer Besuchergruppe das Haus zeigt. „Und hier ist unsere Wahrheits-Redaktion“, trompetet er fröhlich. Zehn Augenpaare starren uns erwartungsvoll an. Der Kollege wackelt aufmunternd mit den Augenbrauen, was vermutlich heißen soll, dass jemand jetzt ganz schnell etwas Witziges sagen soll. „Es heißt Wahrheit-Redaktion“, geben wir mürrisch zurück „Nieder mit dem Fugen-s!“ Die Gruppe zieht beleidigt weiter, wir widmen uns der Büroarbeit. „Hallöle, liebe Wahrheitsredaktion“, schreibt Oliver S. aus Hamburg, „schon seit Jahren erfreue ich meinen Bekanntenkreis mit meiner spitzen Feder. Ihr könnt bestimmt ein paar von meinen humorvollen Alltagsgeschichten gebrauchen, die sehr gut auf eure Seite passen würden . . .“ Man möchte heimgehen. Oder Wirtschaftsredakteur werden, aber just als die Stimmung auf dem Nullpunkt angelangt ist, klingelt das Telefon. Der Kollegin aus dem Auslandsressort liegt ein Manuskript vor, das sie gern abgeben möchte. Es gehe um „eine Gruppe von neun Bären, für die in den rumänischen Karpaten ein Tunnel gegraben werden soll. Ist das was für euch?“ Ja! Hurra! „Wieder eine Bärenmeldung“, brüllen wir, „eine Riesenbärenmeldung!“ Die Besuchergruppe, nunmehr auf dem Rückweg, folgt ihrem Fluchtimpuls.

PS: Vor kurzem telefonierte ich mit dem amtierenden Wahrheit-Redakteur. Herr Ringel las mir ein schönes Gedicht vor, klagte anschließend über die schlechte Nachrichtenlage und stellte dann fest, dass es schon sehr spät sei. „Entschuldige bitte“, sagte er, „aber ich muss mich jetzt um meine Gurke kümmern.“ Wie er seiner Mutter seinen Job erklären will, weiß ich auch nicht.