Geniale Glas-Spitzen

■ Mit der Natur als Vorbild werden Schwimmanzüge schneller, Lack besser. In Bremerhaven laufen Tests mit Kieselsäure-Algen

Klassische Botanik wurde lange als brotlos angesehen. Bis der Bonner Biologe Wilhlem Barthlott seinen Lehrstuhl zur Goldgrube machte und mit der Natur als Vorbild zig Alltagsgegenstände revolutionierte: Schwimmanzüge zum Beispiel, wie Haifisch-Haut und mit minimalem Strömungswiderstand. Oder Auto-Lacke mit der schmutzabweisenden Oberfläche des Lotus-Blatts.

Jetzt ist das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven auf die Alge gekommen: Mit Crash-Tests und Computer-Simulationen versucht der Biologe Christian Hamm, die Baupläne der Mikropflanzen zu erforschen. Am Ende könnten Ultra-Leichtwerkstoffe für die Raumfahrt stehen oder auch nur härtere Sportfelfen.

Dafür hat sich Hamm auf eine besondere Algensorte spezialisiert. Diatomeen heißen die Meereskrauter, die vom Eismeer bis zum Blumentopf weltweit dort vorkommen, wo sie ein bisschen Feuchtigkeit finden. Kieselalge ist ihr deutscher Name, der auf eine weitere erstaunliche Eigenschaft hinweist: Die Mikrolebewesen besitzen einen Panzer aus Kieselsäure. Was nichts anderes ist als ein technischer Ausdruck für Glas.

Unterm Mikroskop wird die ganze Schönheit der Wasserpflanze offenbar. Ein Mikrokosmos bizarrer Gebilde zeigt sich dann: Manche Diatomeen gleichen Häkeldeckchen oder kreisrunden Rosetten von Kirchenfenstern. Andere sehen aus wie Mieder-Spitzen, mauretanische Steinmetzarbeiten oder der interstellare Fuhrpark eines Science-Fiction Ausstatters.

Über 80.000 solcher Proben verwaltet AWI-Forscher Richard Crawford in Bremerhaven – eine der größten Sammlungen der Welt. „Keiner weiß genau, wie viele Diatomeenarten es gibt“, meint der gebürtige Engländer. „Schätzungen gehen bis zu 100.000 weltweit. Es ist eines der erfolgreichsten Lebewesen der letzten 70 Millionen Jahre.“ Das Geheimnis ihres Erfolges sieht Hamm in den fein ziselierten Diatomeenschalen. Einerseits soll der Glaspanzer vor Stößen und Fressfeinden schützen. Andererseits soll er möglichst wenig Material benötigen. Ergebnis sind Konstruktionen, die technisch perfekt an die Anforderungen des jeweiligen Lebensraumes angepasst sind.

Aus dem Südpolarmeer fischte Hamm eine Alge, deren Panzer sehr leicht ist, damit die Pflanze nicht in die Tiefsee sinkt. Ergebnis ist eine Konstruktion mit Querstreben, wie sie auch für Hochseeschiffe entwickelt wurde.

Eine andere lebt hauptsächlich auf Steinen, wo sie sich nur vor Schnecken schützen muss. Da sie auf das Schweben im Wasser verzichtet, kann sie sich einen schweren Panzer leisten. Ergebnis ist eine „Schale mit Längsachsen und konzentrischen Versteifungen“. Das gleiche Prinzip verwenden Architekten, um Glaskuppeln zu bauen.

Doch was immer sich die Ingenieure ausdachten – die Alge könne es meist besser, meint Hamm. Bei allen möglichen technischen Geräten entfällt es dem Biologen: „Nicht ausgereift.“ Und setzt auf Algen-Fortschritte.

Um seine Theorie zu beweisen, zerquetschte Hamm über 100 Einzeller mit Glasnadeln. Ein Geduldsspiel unter dem Mikroskop: Diatomeen sind maximal einen halben Millimeter groß. Die Messergebnisse überprüft er in einer Computersimulation – mit den gleichen Programmen, wie sie die Auto-Industrie für neue Modelle verwendet.

„Die halten mehrere 100 Tonnen Druck pro Quadratmeter aus“, fasst Hamm zusammen. Das sei ein Druck „wie wenn ein Schiff auf einen Eisberg rammt“. Nur die Titanic habe mehr aushalten müssen. Aber selbst „die ist prompt kaputtgegangen“, verteidigt Hamm seine Crash-Test-Algen.

Ganz neu ist der technische Einsatz von Kieselalgen allerdings nicht – wenn auch auf deutlich primitiverem Niveau: Jahrzehntelang verkauften Bergbauunternehmen aus der Lüneburger Heide „Kieselgur“ – einen Sand aus versteinerten Algenschalen. Brauereien filtern mit der porösen Masse noch heute ihr Bier. „Diatomeenerde“ steckt auch in Dämmstoffen für Eiskeller und abhörsichere Telefonzellen oder in Zahnpasta und Stahlpolitur. Zeitweise streckte man auch Kosmetika mit dem Algenmaterial.

Die bekannteste Anwendung entdeckte jedoch ein schwedischer Sprengstoff-Fabrikant: 1865 verknetete Alfred Nobel den Algensand mit hochexplosivem Nitroglycerin – und erfand so das Dynamit, das ihn mit einem Schlag reich machte. So reich, dass er testamentarisch den bekanntesten Wissenschaftspreis der Welt stiftete.

Doch darauf sollte man Hamm nicht ansprechen. Denn zu Nobels Idee, perfekt konstruierte Glaspanzer als Explosionsträger in die Luft zu jagen, hat der Diatomeen-Experten eine eindeutige Meinung: „Das ist ein Verbrechen“.

Florian Klebs