Einfach ins Erdloch gesperrt

Gespräche mit kriegsgefangenen Pakistani und Flüchtlingen an der Kundus-Front. Die Lage in der Stadt ist katstrophal

aus Imam Sahib BERNHARD ODEHNAL

Mächtig und bedrohlich überragen die Mauern der Festung Khunakala die Stadt Imam Sahib im Norden Afghanistans. Hinter dem meterdicken Bollwerk aus Lehm verschanzten sich die Horden von Dschingis Khan und Tamerlan. Sie kontrollierten von hier aus die fruchtbare Ebene und den Fluss Amur. Die Ruinen der Festung dienten noch im 20. Jahrhundert den Russen als Heerlager, danach den Truppen der Mudschaheddin, danach den Taliban. Vor etwa einer Woche mussten die Koranschüler die Stadt Hals über Kopf verlassen. Die Mudschaheddin kehrten zurück und haben für das alte Mauerwerk von Khunakala eine neue Verwendung: als Gefängnis.

Aus einem Erdloch unter den Mauern kriechen sieben zerlumpte Gestalten. Es sind junge Pakistani, die auf der Seite der Taliban in der nahe gelegenen Stadt Kundus gekämpft hatten, und ,,die wir an der Front erwischt haben, als sie vor den amerikanischen Bomben flüchteten“, erklärt der Mudjaheddin-Kommandant. Den sieben sind primitive Fesseln angelegt worden: Eisenringe um die Fußgelenke, die durch zwei Eisenstangen verbunden sind. Diese Stangen mit einer Hand hochhaltend, schlurfen die Pakistani langsam ans Tageslicht. Ihre ,,Zelle“ ist eine etwa ein Meter hohe und zehn Meter lange Höhle im Lehmboden, die durch eine dicke Holztür verschlossen wird. Kein Lichtstrahl fällt in dieses Loch, die Luft ist stickig, am Boden liegen drei Strohmatten. „Einmal am Tag“ sagt der Kommandant, „dürfen sie ins Freie“. Die großen Pupillen und verwirrten Blicke der Gefangenen lassen eher annehmen, dass sie schon längerem keine Sonne mehr gesehen haben.

Sie sind zwischen 17 und 27 Jahre alt, kommen aus Quetta, Faisalabad und Islamabad. Sie waren Mitglieder der „Armee Mohammeds“, eine radikal-islamische Bewegung, die vor allem in Kaschmir aktiv ist. Die sieben Männer behaupten, sie hätten nie zuvor gekämpft. Anfang Oktober, als die amerikanischen Bombenangriffe auf Afghanistan begannen, seien sie über die pakistanisch-afghanische Grenze, um den Taliban zu helfen. Militärisches Training hätten sie nicht bekommen. Auch keine Landeskunde. Die Pakistani sprechen nicht Dari, die Landessprache in Nordafghanistan, und wissen nur vage, wo sie sich befinden. Sie wurden von den Taliban ohne Erklärungen nach Kundus geschickt, um dort die Stellung zu halten: „Unser Mullah sagte uns, wir sollten gehen um Afghanistan vor den Amerikanern und den Europäern zu schützen.“

Viel haben sie zu diesem Kampf nicht beitragen können. Als sie nach Kundus kamen, hagelten bereits die Bomben der Amerikaner auf ihre Stellungen. Ein paar Tage lagen sie im Graben, konnten weder vor noch zurück, dann rannten sie doch los, jedoch in die falsche Richtung – in die Arme der Nordallianz. Dass sie sich kampflos ergaben, kam für die Soldaten der Allianz überraschend. „Die Pakistani und Araber haben nichts zu verlieren, sie bringen sich lieber selbst um und nehmen noch unsere Leute mit“, sagt der Kommandant. Gefährlich sei die Situation vor allem, weil der Hunger die Taliban und ihre Verbündeten aus den Schützengräben und in die Dörfer treibe. Vergangene Woche habe man vier tote Taliban gefunden, die Zweige und Wurzelwerk in ihren Taschen hatten. Sie waren offenbar verhungert. Und vor drei Tagen drangen drei Pakistani in ein Bauernhaus ein und forderten Essen. Der Bauer konnte einen Trupp der Nordallianz alarmieren. Doch als die Soldaten das Haus stürmten, sprengten sich die Pakistani selbst in die Luft.

Solche Berichte werden in Imam Sahib von Flüchtlingen betätigt, die vor wenigen Tagen Kundus verlassen haben. Die Lage sei für die Bevölkerung katastrophal, erzählt ein älterer Mann, „wir verbrachten die meiste Zeit im Keller. Alle Geschäfte sind geschlossen, wir essen unsere letzten Vorräte auf.“ Die Taliban hätten längst aufgegeben, nur die „Ausländer“ wollten weiterkämpfen. Die Flüchtlinge in Imam Sahib erzählen von Arabern in den Straßen von Kundus, die sich Zettel in den Turban gesteckt haben mit den Worten „Allah ist groß“ und „Tod den Amerikanern“.

Die sieben Pakistani in Imam Sahib haben zwar nicht ihren Glauben an Gott, aber sicherlich an ihren Mullah verloren. ,,Er sagte uns, dass wir gegen Amerika kämpfen werden. Aber wir haben in Afghanistan keinen einzigen Amerikaner gesehen, nur Muslime wie wir es sind.“ Hinter den Mauern der Festung Khunakala versinkt rotglühend die Sonne. Die sieben Gefangenen sinken zum Gebet in die Knie, dann werden sie zurück in ihr Lehmloch geführt. Was wird mit ihnen geschehen? Der Kommandant zuckt mit den Schultern: man werde sie vielleicht in ein anderes, ein besseres Gefängnis überführen. Aber zur Zeit sei kein Platz, „Sie sehen es ja selbst, die ganze Stadt ist voll von Soldaten. Aber wenn wir Kundus erobert haben, wird sich auch hier einiges ändern.“

Der Autor ist Auslandsredaktor bei der Zürcher „Weltwoche“