Lob des Zuspätkommens

Warum es mit der Pünktlichkeit nie funktioniert – ein glaubwürdiges Plädoyer

Eine zumindest halbwegs interessante Geschichte muss es dann schon sein

Ich komme zu spät. Fünfzehn Minuten zu spät wenigstens, meistens aber mehr. Ich komme einfach nicht rechtzeitig von zu Hause los. Nie. Immer ist noch was, das mich am Weggehen hindert. Manchmal stutze ich, wenn ich die Wohnung verlassen will und feststelle, dass ich pünktlich zu meiner Verabredung käme, würde ich den angebrochenen Weg konsequent fortsetzen. Dann schaue ich lieber noch mal nach. Klar, das Frühstücksgeschirr steht noch auf dem Küchentisch rum. Das sollte ich noch schnell wegräumen. Ich hasse es, nach Hause zu kommen und Unordnung vorzufinden. Als ich also Tasse und Teller in meine Bauknecht Ladyplus räumen will, klingelt das Telefon. Ich bin einer von den Menschen, die dann abnehmen und sich ärgern, dass sie abgenommen haben. Irgendein unnötiger Anruf, der besser auf dem Automaten versandet wäre. Keiner Rede wert. Dauert aber zwei, drei Minuten, in denen ich den Blick schweifen lassen und feststellen kann, dass die Altpapierklappbox überquillt. Also packe ich nach Beendigung des Gesprächs einen Teil des Papiers in einen Leinenbeutel, den ich auf dem Weg zur Verabredung in den Recycling-Container leeren kann. Dazu muss ich den Beutel leeren, denn in ihm sind noch zwölf altbackene Brötchen. Ich hatte sie aufbewahrt, um bei Gelegenheit mal Semmelknödel aus ihnen zu machen. Die Gelegenheit hatte sich ganz lange nicht ergeben. Ich wollte die Brötchen schon immer mal in den Müll werfen. Warum also nicht jetzt? Die unter der Spüle verstaute Mülltüte ist übervoll und stinkt. Also erst den Müll raus, dann die Brötchen entsorgen, dann die Zeitungen in den Beutel tun und dann die Wohnung verlassen. Sie merken, ich habe das Frühstücksgeschirr vergessen. Das merke ich jetzt auch, allerdings erst nachdem ich die Wohnungstür von außen zugemacht habe. Ich muss also noch mal rein und abräumen. Es ist durchaus möglich, dass ich beim abermaligen Betreten der Wohnung noch etwas feststelle, das unbedingt der Erledigung harrt, dessen Beschreibung aber verzichtbar ist, weil Sie das Prinzip jetzt verstanden haben. Ich komme zu spät. Und ich habe gute Gründe.

Menschen, die seit langem mit mir leben dürfen, haben sich daran gewöhnt. Sie werden erst aufmerksam, wenn die vereinbarte Treffzeit um mehr als eine Stunde überschritten ist und ich mich noch nicht gemeldet habe. Weil sie wissen, dass ich weiß, dass sie das wissen, rechnen sie mit meinem „Ich komm gleich“-Anruf“ kurz vor Ablauf der Stunde. Kommt der Anruf dann nicht, wissen sie, dass außergewöhnliche Probleme mein Erscheinen verzögern. Letztens war es ein Plattfuß am rechten Vorderreifen. Ich unterrichtete die mit mir Verabredeten zehn Minuten später als gewohnt und kam insgesamt gut zwei Stunden zu spät. Damit sie mir glaubten, hatte ich meine Hände nach dem Reifenwechsel nicht gründlich gewaschen. Das Notrad hatte in der Kofferraumausbuchtung in einer Ölpfütze gelegen.

Die Endreinigung erledigte ich also am Treffpunkt vor aller Augen und konnte dabei die ganze Geschichte ausführlich erzählen. Eine zumindest halbwegs interessante Geschichte muss es dann schon sein. Das auf mich wartende Publikum erwartet eine gewisse sichtbare Zerknirschung und ein glaubwürdiges Plädoyer. Das hat es nach 120 Minuten Verspätung aber auch verdient. Bei der Reserverad-Geschichte erzählte ich während des Händewaschens also ein bisschen was über die mir bis zu diesem Vorfall unbekannten technischen Neuerungen aus der Welt der modernen Autobereifung. Ich war ja nach der Notradmontage noch schnell in eine Fachwerkstatt bei mir um die Ecke eingekehrt. Was es da alles gebe heutzutage.

Das anschließende Gespräch fuhr dann zügig weiter nach oben. Für ein Viertelstündchen verweilte man im recht unübersichtlichen Motorraum, um es sich dann aber um so ausführlicher in der Fahrgastzelle gemütlich zu machen. Was es da nicht alles zu bestaunen gab. Insbesondere die fortgeschrittene Technik des satellitengestützten Navigierens nahm eine solch zeitraubende Strecke in Anspruch, dass ich die Herrschaften recht eindrücklich an den eigentlichen Grund unseres Treffens erinnern musste. Mit unnötigem Gerede über unnötige Gegenstände soll man nicht allzu viel Zeit totmachen. Wir hatten etwas zu arbeiten und ich noch eine weitere Verabredung, bei der ich mich um nichts in der Welt verspäten durfte und wollte.

Was ich damit sagen will: Es ist keinesfalls so, dass ich nicht wüsste, zu welchen Anlässen ich pünktlich zu erscheinen habe. Bei diesem zum Beispiel spielte ein von einer liebenswerten Person für mich zubereitetes Wildschweinragout auf breiten Bandnudeln eine wesentliche Rolle. Zuspätkommen wäre in jedem Fall fahrlässig, weil unhöflich und dem Geschmack abträglich gewesen. Pünktlichkeit darf also nicht grundsätzlich in den Bereich der menschlichen Sekundärtugenden wegverachtet werden. Wenn schwerwiegende Gründe vorliegen, sollte man unbedingt zum vereinbarten Zeitpunkt an Ort und Stelle sein.

Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich jetzt schließen muss. Man erwartet mich. Aber erst seit einer guten halben Stunde. Und ich muss noch das Frühstücksgeschirr von gestern abräumen. FRITZ ECKENGA