Das Wettrennen um Kundus

Heute soll die letzte Bastion der Taliban im Norden übergeben werden. Die Kommandanten der Nordallianz wittern fette Beute. Jeder will sie für sich

aus Imam Sahib BERNHARD ODEHNAL

Es ist Zeit zum Aufbruch. Von einem Hügel oberhalb des Wüstendorfes Askala dirigiert ein Kommandant der Nordallianz seine Soldaten durch den Sand. In der einen Hand hält er ein Funkgerät, mit der anderen winkt er seine Leute herbei, damit sie auf die Wagen aufspringen. Jetzt muss alles schnell gehen, der Marschbefehl ist da. Dann setzt sich der merkwürdige Tross in Bewegung: Minibusse, offene russische Jeeps, Lastwagen, Traktoren mit Anhängern. Auf den Fahrzeugen sitzen, stehen oder hängen junge und alte Soldaten, in Uniform oder in Pluderhosen und langen Wollwesten, mit Kalaschnikows oder Granatwerfern. Sie lachen und winken. Die Wagen hüllen Askala in eine Wolke von Wüstensand und Diesel. Der Konvoi fährt los, an die vorderste Front der Nordallianz vor der Stadt Kundus.

Ein wendiger Polizeichef

Am Wochenende ging das Wettrennen um Kundus in die Endphase. Die letzte Hochburg der Taliban nördlich von Kabul sollte fallen, innerhalb Stunden oder Tagen – bloß: Wer kann sie nehmen und wie? Mindestens drei Ober- und 50 Subkommandanten sind an der Operation beteiligt. Die Allianz ist brüchig. Jeder Kommandant verfolgt seine eigenen Interessen, die sich nicht unbedingt mit jenen des Generalstabs oder der Regierung decken. Manche möchten die Stadt mit Gewalt nehmen, manche auf friedlichem Weg.

Amir Latif Ibrahimi, usbekischer Kommandant der Nordallianz im Norden des Belagerungsringes, hat in den vergangenen Tagen pausenlos mit den Taliban Verhandlungen geführt. „Ich fühle mich für die Frauen und Kinder in der Stadt verantwortlich. Hätten wir angegriffen, wären sie von den Taliban als Geiseln genommen worden.“ Die Gespräche zwischen der Allianz und den Taliban begannen unter freiem Wüstenhimmel an der vordersten Frontlinie. Einen Tag später ging Kommandant Latif lediglich in Begleitung eines Leibwächters in die Stadt. „Die Menschen sind verzweifelt und verängstig“, sagt er, „sie wollen keinen Krieg mehr. Auch die Taliban sind müde. Sie würden am liebsten sofort aufgeben.“

In den vergangenen Tagen sind mehrere Trupps der Taliban übergelaufen. Unter ihnen ist auch Mirsah Mohammed Nasiri, der Polizeichef von Kundus. Er habe schon in den vergangenen Wochen heimlich für die Amerikaner gearbeitet, behauptet Nasiri, und „über Satellitentelefon Bombenziele durchgegeben“. In den Stunden der Niederlage will jeder schon immer auf der richtigen Seite gestanden haben. Dabei sei Mirsah Nasiri ein überzeugter Taliban gewesen, berichten Flüchtlinge aus Kundus: Er habe persönlich Frauen auf der Straße ausgepeitscht. Nasiri hat rechtzeitig die Seite gewechselt. In der Stadt Imam Sahib, dem Hauptquartier von Kommandant Amir Latif, hat er für sich und seine Männer ein großes Haus bekommen. Nach dem Krieg möchte er wieder zurück nach Kundus und „ein einfaches Leben führen“.

Für alle jene, die noch immer in der Stadt sitzen, hat Amir Latif mit seinen Kollegen einen komplizierten Evakuierungsplan ausgearbeitet. Zuerst sollen die Taliban alle schweren Waffen abliefern. Dann werden einfache Soldaten mit Lastwagen und Bussen Richtung Westen aus der Stadt und via Masar-i Scharif und Herat in den Süden Afghanistans gebracht. Zur gleichen Zeit rücken die Truppen der Nordallianz in die Stadt ein und sorgen für Ruhe und Sicherheit. Die Kommandanten der Taliban will Latif in Kundus festnehmen und „der UNO oder dem Internationalen Roten Kreuz übergeben“. Der Plan klingt überlegt, ist aber doch nicht ganz ausgereift: Um etwa 15.000 Soldaten aus der Stadt zu bringen, braucht man sehr viele Lastwagen. Die gibt es in Afghanistan nicht. „Wir werden die Leute eben zuerst in Lager bringen und sie innerhalb der nächsten Wochen evakuieren“, sagt Latif. Aber die Route der Evakuierung führt über Masar. Dort herrscht der Usbeke Raschid Dostum, der schon mehrmals Taliban grausam massakrieren ließ. „Kein Problem“, sagt Latif, „wir können Dostum völlig vertrauen.“

Selbst wenn das so funktioniert: In Kundus soll es noch mehrere tausend „Ausländer“ geben. Araber, Pakistani und Tschetschenen, die an vorderster Front kämpften und sich eher selbst umbringen würden als aufzugeben. „Ja, es gibt viele Verrückte in Kundus“, sagt Amir Latif, „aber wir werden sie festnehmen und der UNO oder dem Roten Kreuz übergeben.“ Doch weder Rotes Kreuz noch UNO haben Vertreter in der Region, und es ist fraglich, ob sie sich in den Konflikt überhaupt einmischen wollen. Leicht würde eine vermittelnde Partei zwischen alle Fronten geraten.

Samstagnachmittag präsentierte die Nordallianz eindrucksvoll, wie unkoordiniert und chaotisch ihre Kommandanten handeln: Während Amir Latif mit seinen Leibwächtern in einem russischen Jeep durch die Wüste zur nächsten Verhandlungsrunde rast, war in der Ferne das Donnern schwerer Artilleriegeschütze zu hören. Im Osten des Belagerungsringes wollte ein Subkommandant der Nordallianz 200 Taliban-Soldaten empfangen. Zur gleichen Zeit ließ der Befehlshaber der Front, Kommandant Daut, das Feuer auf die Talibanstellungen eröffnen. „Daut will Krieg“, sagt verärgert Latifs Bruder Mohammed, „er ist Tadschike und nicht aus Kundus. Deshalb schert er sich keinen Deut um das Leben der Zivilisten in der Stadt.“ Noch bekennen sich die Usbeken in Latifs Hauptquartier Imam Sahib zu einem Staat mit einer Regierung, in der alle Ethnien vertreten sind. Doch hinter diesen Lippenbekenntnissen kommen schnell die alten Vorurteile hoch – gegen Tadschiken, die sich an den anderen bereichern wollen; gegen Paschtunen, die noch immer heimlich die Taliban unterstützen. Nur Usbekengeneral Dostum wird als Autorität anerkannt.

Ein zäher Verhandler

Und das war die Lage vor dem Fall von Kundus: Im Osten ließ Daut seine Geschütze donnern, im Süden rückten die Truppen von Dostum vor, im Westen verhandelte Amir Latif mit den Taliban-Führern. Auf einem Hügel oberhalb des Flusses Alchin, drei Kilometer außerhalb von Kundus, wurde die Übergabe der Stadt besprochen. Auf staubigen Teppichen neben neuen Geländewagen und rostenden Panzerwracks diskutierten Amir Latif und seine Brüder stundenlang mit den Taliban-Kommandanten, wer wann die Stadt betreten dürfe und wo die Waffen abgegeben werden.

Die Nordallianz brachte gleich ihr schweres Gerät mit, die Taliban kamen mit nervösen Leibwächtern, die ihre Gewehre entsichert hielten und drohten, auf jeden Fremden sofort zu schießen. Latifs Armee wartete einen Kilometer hinter der Linie auf den Befehl zum Einrücken. Erst gegen Abend setzte sich der Konvoi wieder in Bewegung – jedoch nur, um einen neuen, noch engeren Belagerungsring zu ziehen. Am Abend, behauptete Kommandant Latif, seien 700 Mann seiner Truppe in Kundus einmarschiert, um für Sicherheit und eine friedliche Machtübernahme zu sorgen. Zur gleichen Zeit meldeten auch die Kommandanten im Westen und Osten, dass sie die Stadt erreicht haben. Heute soll Kundus von der Nordallianz übernommen werden. Bleibt nur die Frage: Von wem? Amir Latif behauptet, die Menschen von Kundus würden schon auf ihn warten. Raschid Dostum beansprucht bereits 70 Prozent der Stadt für sich.

Es geht nicht nur um die Eroberung, sondern vor allem um wertvolle Kriegsausrüstung: In Kundus warten auf den Sieger angeblich 400 Panzer und 6.000 Geländewagen der Taliban. Jeder Kommandant möchte diese Beute für sich alleine haben. Wenn sich die neuen Herren nicht einigen können, droht Kundus die Teilung – und im schlimmsten Fall Straßenkämpfe oder Bandenkriege um die Hinterlassenschaft der Taliban. „Das ist unser Fluch“, seufzt Mohammed Ibrahimi, „seit dreißig Jahren machen wir Afghanen nichts anderes, als gegeneinander Krieg zu führen.“

Der Autor ist Auslandsredaktor bei der Zürcher „Weltwoche“.