herr tietz macht einen weiten einwurf
: FRITZ TIETZ über längst vergangene Zeiten

Die Dribblings des jungen W.

Neulich mal wieder gegen einen Ball getreten. Er kam über einen Zaun geflogen, hinter dem welche kickten, und mir direkt vor die Füße; eine bessere Vorlage kann man sich nicht wünschen. Also stoppte ich das Ding und schoss es über den Zaun zurück, so zumindest war’s geplant. Tatsächlich haute ich den Ball als trudeligen Querschläger schräg über die Straße, legte mich dabei beinah hin und hatte plötzlich dieses verfluchte Reißen im Steiß. So wurde mir wieder mal schlagartig klar: Meine große Zeit ist wohl gelaufen. Und eigentlich ist sie auch schon verdammt lange her.

Bereits mit fünfe, sechse habe ich mit dem Fußballspielen begonnen. Auf der Straße zunächst, wie alle großen Spieler. Später dann auf diesem Bolzplatz mit seinem blutigste Hautschrunden erzeugenden Geläuf, das vornehmlich aus (was allerdings erst Jahre später festgestellt wurde) dioxinhaltiger Asche bestand. Da lernte ich meine Tricks und schaffte mir die Praxis drauf, die mir alsbald, ich war höchstens acht, zu einer Berufung in unsere Straßenmannschaft verhalfen. Hier spielten außer meinem damaligen Fußballgott und älteren Bruder, dem ich natürlich maßgeblich meine Nominierung zu verdanken hatte, die allesamt ebenfalls schon Jahre älteren und um Lichtjahre besseren Neumann, Drawe, Hammerschmidt und Bohle, um nur mal die Stars unserer Mannschaft zu nennen. Regelmäßig ging’s gegen die Straßen-Teams der Umgebung. Vom Balljungen, der die Bälle aus den Büschen holte, über den Torwart, den traditionell die Kleinen bzw. „die Flaschen“ stellen mussten, kam ich zu meinem ersten Feldeinsatz. Beim Spiel gegen die Typen vom Rehwinkel durfte ich als Verteidiger auflaufen. Als Torwart rückte mein jüngerer Bruder nach. Alle anderen waren Stürmer – das damals übliche 1-0-9-System eben.

Es war so nebelig an diesem Tag, dass man vom eigenen Strafraum aus das andere Tor nicht sah – und ich damit praktisch nichts vom Spiel, weil sich dessen Geschehen ausschließlich im gegnerischen 16er abspielte. Da ich, wie’s mir die anderen eingeschärft hatten, stoisch auf meiner Position in der Abwehr verharrte, hatte ich keine einzige Ballberührung. Wenn ein Tor für uns fiel, bekam ich das nur akustisch durch den Jubel der Kameraden mit. Gelegentlich tauchte mein Bruder aus dem Nebel auf, um uns hinten den aktuellen Spielstand zu vermelden. Vor allem wollte er sich aber wohl vergewissern, ob seine beiden kleinen Brüder noch da waren. Er hatte schließlich unserer Mutter versprochen, auf uns aufzupassen. Das Spiel endete mit circa 36:0 für unsere Mannschaft sowie mit einer schweren Lungenentzündung für mich. Das 90 Minuten lange Rumstehen in der Kälte und kurzen Hosen auf einer feuchten Wiese hatte seinen Tribut gefordert.

Später, in den diversen Klassenmannschaften, spielte ich dann ausschließlich im Offensivbereich und trat als stets brandgefährliche Spitzenkraft in etlichen Schulmeisterschaftsspielen an. Meine Pässe galten als genial, meine Dribblings als sensationell, mein Tordrang als unwiderstehlich. Mit 12 bestritt ich das Spiel meines Lebens. Obwohl bei den anderen ihr Lateinlehrer mitkickte, gewannen wir mit 9:2. Ich schoss in diesem Spiel sieben Tore und legte damit den Grundstein für die Torjägerprämie, die mir am Ende des Schuljahrs vom Direx überreicht wurde: eine Tüte „Werther’s Echte“. Meine erste, allerdings auch einzige Prämie, die ich je im Sport errang.

Genau eine solche Tüte ging ich mir nach meinem missglückten Schussversuch neulich aus lauter Melancholie wieder mal kaufen. Hockte dann eine Weile auf einer Parkbank, lutschte einen der klebrigen Tröster und suhlte mich in Wehmut. Ist lange her meine große Zeit, wie gesagt, und – aber auch das erwähnte ich bereits – wohl ein für alle mal gelaufen. Vorbei, vorbei, alles vorbei.

Fotohinweis: Fritz Tietz, 42, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport