Paradoxe Rochade

Heute beginnt die Schach-WM des Weltverbandes Fide. Mit dabei ist überraschenderweise auch der einstige Fide-Gegner Anatoli Karpow

von HARTMUT METZ

Anatoli Karpow schien die Schachwelt nicht mehr verblüffen zu können. Weder mit seinen Zügen, die dem Russen 154 Turnier- und Zweikampfsiege bescherten, noch mit Scharmützeln abseits des Brettes. Vor der heute beginnenden WM des Weltverbandes in Moskau sorgte der 50-Jährige allerdings für ein „Paradoxon“, wie die englische Internet-Kultseite „The week in chess“ (www.chesscenter/twic/twic.html) weiß. Durch einen Frontenwechsel „wertet Karpow beide Turniere auf“.

Zum einen das Botwinnik-Memorial, für das er zunächst neben den in der Weltrangliste führenden Garri Kasparow und Wladimir Kramnik zugesagt hatte. Die beiden russischen Asse hätten sich jedoch in dem Dreierturnier am auf Platz 16 abgeglittenen Karpow schadlos gehalten; jetzt spielen sie zum Gedenken an den 90. Geburtstag des sowjetischen Schach-Übervaters Michail Botwinnik ab Samstag direkt gegeneinander – ohne Karpow. Das verspricht hochklassigeren Denksport, vor allem weil Kasparow in den vier Turnierpartien (außerdem werden noch Begegnungen mit kürzerer Bedenkzeit ausgetragen) beweisen will, dass ihn Kramnik nur zufällig als Braingames-Weltmeister entthronte. Der 25-Jährige lässt nämlich seinen Vorgänger bezüglich eines richtigen Revanchekampfs zappeln – und schlägt Kasparow so mit seinen ureigensten Waffen.

Zum anderen rückte die ebenfalls zeitgleich in Moskau ausgetragene WM des Weltverbandes Fide durch Karpow mehr in den Mittelpunkt. Dass er jahrelang mit der Fide im juristischen Clinch lag, weil der Weltmeister nicht mehr wie früher im Finale auf den Gegner warten darf, schert den Politprofi wenig. Auch vor Gericht erstrittene 50.000 Dollar Entschädigung erfreuen einen geizigen Millionär – nun soll er die Hand bei der Fide noch weiter aufgehalten haben. Das behauptet zumindest Kasparow, der höchstselbst empört das „schmutzige Geld für eine Teilnahme“ des zwielichtigen Fide-Präsidenten Kirsan Iljumschinow ablehnte.

Karpows Turnier-Rochade dürfte auf jeden Fall mit dem kalmückischen Staatspräsidenten zusammenhängen. Angeblich will Karpow ihn beerben – und vor einer Wahl wirkt ein Boykott der Fide-WM auf die Delegierten ganz, ganz schlecht. Der Exweltmeister sammelt nicht nur Briefmarken, sondern hechelt auch Titeln wie kein Zweiter hinterher, als Fide-Präsident würde sich der erfolgreichste Turnierspieler aller Zeiten endgültig unsterblich machen. Lauter klingen hingegen die Motive aus seinem eigenen Mund: „Nach meinem Turniersieg in Buenos Aires habe ich wieder Mut gefasst.“ Er wolle wie anno 1974, als er Bobby Fischer kampflos beerbte, für Mütterchen Russland die Schach-Krone zurückholen.

Außer dem 50-Jährigen haben aber alle anderen nur Titelverteidiger Viswanathan Anand auf der Rechnung für das WM-Finale im Januar. Dem Blitzdenker kommt die auf 90 Minuten (plus 30 Sekunden pro ausgeführten Zug) verkürzte Bedenkzeit zugute. „Karpow hat keine Chancen, auch wenn er sich nach Buenos Aires im dritten Frühling wähnt“, stellt auch der Hallenser Großmeister Uwe Bönsch klar. Der Bundestrainer sieht seine Schützlinge Thomas Luther (Erfurt), Alexander Graf (Köln-Porz) und Rustem Dautov (Bad Godesberg) nicht viel schlechter als den Russen, obwohl er einräumt: „Wenn einer die dritte Runde im 128-köpfigen Feld erreicht, bin ich zufrieden.“ Die besten Aussichten hat die 16-jährige Elisabeth Pähtz zum Auftakt gegen die Polin Iweta Radziewicz. Als einzige gebürtige Westeuropäerin schaffte die Erfurter Gymnasiastin den Sprung unter die 64 WM-Starterinnen.

Im Kampf um die insgesamt 4,8 Millionen Mark Preisgeld sieht auch Viktor Kortschnoi den „Tiger von Madras“ vorne: „Keiner ist so stark wie Anand“, befindet der 70-jährige Schweizer, ehe der älteste WM-Teilnehmer über seinen Erzrivalen lästert: „Karpow hat keine Chance – weder beim Botwinnik-Memorial noch bei der Fide-WM. Sein Wechsel ist kriminell. Und würde er Fide-Präsident, wäre das ein weiteres Desaster für das Schach.“