Ein Helfer bis zur Unerträglichkeit

„Irgendwann denken wir, wir seien unersetzlich“, sagt Neudeck. Aber deshalb auf die wichtige PR verzichten?

von ELISABETH SCHMIDT

Draußen am Fenster taucht ein Haarschopf auf, Fingerknöchel donnern gegen die Scheibe. „Mein Mann“, sagt Christel Neudeck und: „Ein Chaot.“ Hat natürlich einen Schlüssel, aber benutzt ihn nicht. Oder hat ihn einfach vergessen. – So ist das also im Hause Neudeck.

Wir befinden uns in einem Haus in Köln in einer Straße mit Namen Klingelpütz. Früher war hier mal ein Gefängnis und deswegen sollte sich jeder, der zum Chef von Cap Anamur geleitet werden will, am besten bis zum „Knast“ durchfragen. Und wenn er dann, vom Hauptbahnhof kommend, ein gewaltiges Bankenviertel durchmessen hat, das zuverlässig jeden Sonnenstrahl vor allem Irdischen abschirmt, ist er auch schon am Ziel.

Dafür sieht es im Büro von Rupert Neudeck so aus, wie man sich ein Büro von Rupert Neudeck vorstellt. Muschelketten, Teppiche und Tücher aus aller Herren Länder, auf dem Boden und an den Wänden politische Bücher, Werbe-T-Shirts und Plakate mit Spendenaufrufen – und mittendrin Rupert Neudeck, der, ohne dem gebetenen Gast Beachtung zu schenken, bereits seit geraumer Zeit mit wenigen Unterbrechungen telefoniert. „Ist das die von der Zeitung?“, hatte er seine Frau gefragt, als er schlüssellos ins Büro gestürmt kam, kurz freundlich genickt, „Sie wissen ja, die Entwicklung in Afghanistan“, und schon das erste Telefoninterview gegeben. In dem sagt er, dass er noch mit einem schlimmen Guerillakrieg rechne, dass der bisher einzige Weg nach Afghanistan, anderslautenden Nachrichten zum Trotz, über Tadschikistan führe und dass auch die EU helfen müsse, Zugänge über andere Länder zu schaffen, da viele Flüchtlinge aus Pakistan wieder zurückgingen in ihre Heimatdörfer und unbedingt Hilfe brauchten. Und dass, wenn das alles nicht gelinge, „wir bis Weihnachten die schrecklichsten Nachrichten aus Afghanistan haben werden“.

„Natürlich, die Arbeit.“ Christel Neudeck, 58 Jahre alt, Sozialpädagogin und seit 30 Jahren mit Rupert Neudeck verheiratet, bringt pechschwarzen Kaffee und ein Schokocroissant. Noch nie hat sie erlebt, dass er mal ein Flugzeug später genommen hätte, um mal Luft zu holen: „Der macht sich doch bekloppt.“ Wenn er den Außendienst macht und sie die Arbeit hier, dann klappt das einwandfrei. Aber wenn er von seinen Reisen zurückkommt, hier herumfuhrwerkt, telefoniert, faxt und wieder telefoniert und ihr überhaupt den ganzen Laden durcheinander bringt. „Sie müssten mal sein Arbeitszimmer zu Hause sehen“ – Christel Neudeck gluckst. Richtig dicke kam es, als er – wie andere Kollegen beim Deutschlandfunk – vor fünf Jahren in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurde. Nirgends konnte man mehr auftreten, da er alle Zeitungen auf dem Boden auszubreiten pflegte, um anschließend alle interessanten Dinge auszuschneiden und einzuordnen. Da hat sie ihm gedroht, dass sie sich bald ein Apartment in der Stadt nehmen werde.

Aber dann? Christel Neudeck blinzelt gut gelaunt zu ihm herüber. „Stellen Sie sich vor, ich hätte einen, der nachmittags um 5 nach Hause kommt und eine kalte Pulle Bier will.“ Dann lieber einen, der alles auf den Kopf stellt. Der morgens um fünf anfängt, ein Buch zu lesen, und nicht eher aufhört, als bis er die letzte Zeile verschlungen hat. Einen, der als einzigen Luxus gute Schlafsäcke, Raki und Zigaretten schätzt und selten verschweigt, was er denkt. „Fünf Minuten, hatte ich gesagt“, donnert der gerade ins Telefon, „und die sind lange vorbei.“ Der Hörer knallt auf die Gabel.

Rupert Neudeck setzt sich, holt Tabak aus der Hosentasche und beginnt in aller Ruhe, eine Zigarette zu drehen. „Schwierig? Streng? Barsch?“ Das ist nicht präzise. „Absolut unerträglich“ sei er manchmal, und das nicht nur, aber auch als Folge seiner Arbeit. Er schaut kurz hoch. Unvergessen sind für ihn die Schilderungen der Flüchtlinge, die damals mit der „Cap Anamur“ gerettet werden konnten und die dann erzählten, wie viele vorher vor lauter Verzweiflung ins Wasser gesprungen und ertrunken sind. „Da macht man sich lange Gedanken, warum man nicht schneller war, warum wir mit dem Schiff so spät waren.“ Und aus solchen Gedanken folgen – Neudeck macht eine Pause – „vielleicht sogar eine Reihe unerträglicher Eigenschaften“.

Da ist zum Beispiel diese: Wenn er beschlossen hat, wie Dinge zu laufen haben, müssen diese Dinge so laufen, und zwar unmittelbar und sofort. Auch ohne Rücksicht auf Mitarbeiter und andere Zeitgenossen, für die es auch noch ein Leben neben der Arbeit gibt. „Manchmal auch, ohne groß nachzudenken“, fügt er der Vollständigkeit halber hinzu. Und was seine vielen Auftritte in Radio und Fernsehen anbelangt: Eitelkeit, missionarische Eiferei, das sei das Problem vieler, die mit humanitären Aufgaben zu tun haben: „Irgendwann denken wir, wir seien unersetzlich.“ Aber soll man daraus nun die Konsequenz ziehen, auf die so wichtige Öffentlichkeitsarbeit zu verzichten? Neudeck rollt die Zigarette noch einmal, befeuchtet den Rand und dreht sie mit einem energischen Ruck zu. Rauchen geht nicht, das Telefon klingelt. Neudeck springt auf. Ein Interview mit dem WDR, um halb eins, in Ordnung.

Wir gehen zu Fuß, Rupert Neudeck eilt in Riesenschritten. „Wenn schon, denn schon.“ Wenn gehen, dann gehen, wenn spazieren gehen, dann spazieren gehen. Jetzt wird gegangen und am besten gleichzeitig gearbeitet. Reden wir also über Afghanistan, über die Arbeit, die ihn dort erwartet. Und die so viel schwieriger wird, fällt Neudeck gleich ein, als man es hier wahrhaben möchte. Immer werde, wenn man von der Nordallianz spreche, auch von „Regierung“ und „Armee“ gesprochen. Aber natürlich gebe es keine Regierung, richtigerweise müsse man von Stammesfürsten sprechen, die wie Könige über ihr Territorium herrschten. Rupert Neudeck flitzt durch die wartenden Autos zur anderen Straßenseite. Geschweige denn eine Armee, belehrt er, bestenfalls gebe es ein paar mehr oder weniger gut ausgebildete Soldaten. Semantischer Betrug sei es, in Deutschland und in den USA zu behaupten, man habe alle im Griff. „Nichts haben wir im Griff.“

Jetzt sind wir erst einmal in der Eingangshalle vom WDR, in der eine offensichtlich noch nicht ganz eingearbeitete Empfangsdame dem Gast mit Gewicht bescheinigt, er werde von einem Redakteur namens Rupert Neudeck interviewt werden. „Das bin ich selber“, sagt der so Angesprochene und kichert in sich hinein. Nicht dass er von Bildung allzu viel hält, aber so ein bisschen dürfte es dann doch schon sein. Wir nehmen Platz auf den Wartestühlen, und Rupert Neudeck erzählt von Afghanistan. Anfang Oktober war er dort und habe sofort den Oberbefehlshaber Fahim aufgesucht, einen immerhin mächtigen Vertreter der Nordallianz. Einen „sehr schönen Brief“ habe er schließlich von ihm bekommen, in dem stand, Cap Anamur und alle anderen deutschen Hilfsorganisationen seien herzlich willkommen und erhielten jedwede Unterstützung. Als er dann, den Brief in der Tasche, mit einem Hilfsgütertransport ins Land wollte, kam einer vom Zoll und faselte irgendwas von irgendwelchen Bestimmungen. 1.400 Dollar Zoll musste er zahlen; hätte er sich geweigert, hätte er gleich wieder umkehren können.

Natürlich beschäftigt auch ihn die Frage oft, warum überhaupt er sich das alles antut. Ein vollkommen ungeregeltes Leben, eine Arbeit oft unter Lebensgefahr und viel Frust, weil natürlich nicht immer alles klappt. „Workaholic?“ Bah, das Wort mag er nicht, abgesehen davon, dass das allein wohl kaum ausreicht Viel entscheidender waren für ihn wohl diese Erfahrungen seiner frühen Kindheit. Dieser kalte Januartag im Jahr 1945, als er als Fünfjähriger an der Hand seiner Mutter auf der Flucht in Gdingen am Hafen stand und die „Gustloff“ gerade auslief und eine Frau seine Mutter beschimpfte, dass es doch verantwortungslos sei, mit so einem kleinen Kind zu spät zu kommen. Und wie sie schließlich Unterschlupf fanden in einem warmen Seemannsschuppen und noch am Abend die Nachricht erhielten, dass die „Gustloff“ torpediert worden war. „Verstehen Sie?“ Das vergisst man nicht, nicht diese Angst, nicht diese Kälte und vor allem nicht den Geschmack der Kekse und der Milch, die sie später bei der Schulspeisung gegen den Hunger bekamen.

Die Zeit ist um. Rupert Neudeck findet, dass nun genug gesagt ist zu seiner Person, Widerspruch zwecklos. Nur eines möchte er zum Schluss noch ergänzen zum Thema Unersetzbarkeit, der Fairness halber. Seit einiger Zeit sucht er jemanden, der seine Arbeit machen könnte, aber er findet niemanden. Ja, er möchte aufhören, genauso ist es. Amüsiert betrachtet er seinen Gast, der ihm das nicht auf Anhieb abnehmen möchte. Selbstverständlich weiß er schon, was er dann machen wird. „Was Ähnliches. Aber was anderes“. Mehr wird nicht verraten. Kaum anzunehmen ist aber, dass er bei dieser neuen Aufgabe mal ein Flugzeug auslassen würde? Rupert Neudeck lacht. Nein. Kaum anzunehmen.