Aufstand gegen „Kernzeit plus“

■ 500 städtische KindergärtnerInnen lehnen das Modellprojekt der Landesregierung ab. Ihr Vorwurf an das Sozialressort: Die Planer operierten „im realitätsfreien Raum“

„Jeder, der so ein Modell erarbeitet, müsste verpflichtet sein, mal vier Wochen in einer Integrationsgruppe zu arbeiten“, erklärte eine Erzieherin gestern auf der Personalversammlung in der Glocke. Der tosende Beifall der 500 städtischen KindergärtnerInnen zeigte, dass eigentlich alle wütend auf die Planer des Modells „Kernzeit plus“ sind. Als „Modellprojekt zur Reform der Kindertagesheime“ (KTH) hatte Staatsrat Arnold Knigge das Vorhaben zuvor gepriesen. Geht es nach dem Willen der Bremer Landesregierung, sollen Jugendhilfeausschuss und Sozialdeputation es im Dezember absegnen. Bereits ab Sommer 2002 sollen dann 15 Einrichtungen in Obervieland und Gröpelingen/Walle für zunächst zwei Jahre das Modell erproben. „Wir müssen die Anmeldephase im Januar erreichen“, begründete Knigge die plötzliche Eile der Verwaltung.

Das Modell sieht zum einen eine wahlweise vier oder fünfstündige „Kernzeit“ vor, die durch zusätzliche Stunden („plus“) ergänzt werden kann. „Damit kommen wir den Wünschen der Eltern nach mehr Flexibilität nach“, betonte Knigge. Zum anderen wollen die KTH-Reformer das seit 20 Jahren existierende System der Integration behinderter Kinder in einzelne KTH-Gruppen radikal ändern. „Es wird keine Integrationsgruppen und Integrationshilfe-Programme mehr geben“, stellt die Verwaltung in ihrer Vorlage für den Jugendhilfeausschuss klar, die der Personalrat gestern als Kopien verteilte. Künftig soll jede Kita in jeder Gruppe förderbedürftige Kinder integrieren.

„Wohnortnahe Versorgung“ nennt Knigge diesen Vorschlag. „Flächendeckende Scheinintegration“ sagt Personalratsvorsitzender Rainer Müller dazu. Denn die (teuren) Fachkräfte, die sich bisher in den Integrations-Gruppen besonders um die behinderten Kinder kümmern, sollen in Zukunft nur noch stundenweise zu den Gruppen stoßen – je nach Förderungsbedarf zwischen anderthalb und drei Stunden pro Woche und betroffenem Kind. Die restliche Zeit sollen sich die ErzieherInnen allein um die besonders förderbedürftigen Kinder kümmern. Als Knigge darauf verwies, dass dafür ja eine zweite ErzieherIn in jeder Gruppe drei Stunden am Tag zur Verfügung stehen soll, war Hohngelächter im Saal die Antwort.

Für die „Doppelbesetzung“, gegen die niemand etwas hat, sollen nämlich jene 30,5 ErzieherInnen-Stellen verwendet werden, die bisher als „Differenzierungskräfte“ das Personal dort verstärken, wo besonders viele sozial benachteiligte Kinder wohnen. „Gewinner sind die Kitas in privilegierten Gebieten, verlieren tun die in benachteiligten Gebieten mit hohem Integrationsbedarf“, geißelte der Personalratsvorsitzende den „Bildungsbürgeransatz“ des Sozialressorts. Die Kita-Chefin beim Amt für Soziale Dienste, Christiane Kluge, hatte für Müllers Kritik kein Verständnis: „Ich kann bis heute nicht perfekt sagen, was Differenzierungskräfte wirklich machen.“

Die Extra-Förderung behinderter Kinder, die den ErzieherInnen bei „Kernzeit plus“ auferlegt wird, könnten sie nicht nur aus zeitlichen Gründen nicht leisten, betonen viele. Ihnen fehle neben der Zeit auch die entsprechende Ausbildung. Von Christiane Kluge erwarten sie in dieser Hinsicht nicht viel. Erst vor wenigen Monaten habe die oberste Kita-Chefin den städtischen ErzieherInnen untersagt, einen von kirchlichen Trägern angebotenen heilpädagogischen Lehrgang zu besuchen. „Ist das der Beginn der flächendeckenden Integration, dass die beste Fortbildungsmaßnahme nicht mehr gemacht wird?“, fragt eine Betroffene.

Einstimmig lehnen die KindergärtnerInnen schließlich in einer Resolution das Modellprojekt „in seiner gegenwärtigen Fassung“ ab. Auf der Grundlage der formulierten Kritik müsse das Modell gemeinsam mit den ErzieherInnen umgearbeitet werden. Ohne Zeitdruck. hoi