„Merkwürdiges ist meine Aufgabe“

Entlarvende Larven: Mark Benecke stellt anhand des Insektenbefalls einer Leiche fest, wie lange ein Mordopfer schon tot ist. Der Kriminalbiologe über die Fäulnisstadien toter Körper, seine berühmtesten Mordfälle und den Inhalt seines Tatortkoffers

Interview KIRSTEN KÜPPERS

taz: Herr Benecke, ekeln Sie sich noch vor Leichen?

Mark Benecke: Mich fasziniert der Kreislauf des Lebens: Wie setzt sich lebende Materie in tote um, und dann wieder in lebende. Man ekelt sich ja eigentlich nicht vor der Verwesung, sondern vor der Geschichte, die dahinter steckt. Damit beschäftige ich mich aber kaum. Ich gucke mir nur die Gliedertierwelt an.

Und der Leichengeruch?

Autoabgase sind objektiv genauso ekelhaft, die kann ich viel weniger leiden. Aber in gewissen Fäulnisstadien – wenn die Leichen nicht austrocknen, sondern feucht bleiben – zieht der Geruch schon in die Klamotten. Meine letzte Wäsche musste ich viermal waschen, und die Stiefel riechen immer noch ein bisschen.

Wann werden Sie an den Tatort gerufen?

Die Polizei im Raum Köln holt mich generell in allen Fällen, die besonders auffällig und seltsam mit Insekten besetzt sind: Wenn man etwa überhaupt keine Maden auf der Leiche findet, dafür aber ganz viele Käfer, oder nur Spinnen. Und das Landeskriminalamt ruft oft auch an, wenn die Beamten nach zehn Jahren eine Spur zum Täter haben, und ich meinen Sachverständigen-Kommentar dazu abgeben soll. Dann kommen noch die internationalen Fälle dazu, wo jemand gesucht wird, der viel von Kriminalistik, Rechtsmedizin und Insektenkunde versteht.

Sie haben stets einen Tatortkoffer bei sich. Was befindet sich darin?

Ich habe eine Art Bergarbeiterlampe dabei, denn wenn eine Leiche in einer Wohnung gefunden wird, ist dort sehr oft der Strom abgestellt. Dann gehört eine Kamera in den Koffer, mit der ich die Leiche fotografiere.

Außerdem meine Tatortaufkleber, auf denen verschiedene Skalen sind, damit man auf den Fotos später die Größe der Maden auf der Leiche berechnen kann. Ein Kompass, weil die Ausrichtung der Fenster einer Wohnung zum Beispiel beinflusst, wie sich die Insekten darin verteilen. Eine spezielle Pinzette, mit der man jedes Insekt aufnehmen kann, ohne es zu zerdrücken. Dazu jede Menge Filmdöschen, darin kann man die Tiere asservieren. Und dann eine große Box mit Gummihandschuhen: Ich fasse die Leiche ja an.

Wie sieht ihr Alltag aus?

Zweimal im Jahr bilde ich an der Polizeiakademie Mordermittler aus. Ansonsten stehe ich auf Rufbereitschaft, bin also 24 Stunden erreichbar. Normalerweise treffe ich zusammen mit der Kripo am Fundort der Leiche ein. Ich sammle die Tiere auf dem toten Körper ab, während die Polizei die Spurensicherung übernimmt. Meine Aufgabe ist es dann, das Merkwürdige zu erklären. Zum Beispiel in dem Fall, wo drei Leichen unterschiedlich stark zersetzt waren. Die Frage lautete damals, ob es trotzdem sein kann, dass diese Menschen zum selben Zeitpunkt umgebracht wurden. Das Haus war überall geschlossen. In den oberen Stockwerken war es sehr viel wärmer als unten. Die Leiche oben ist schneller verwest als die in der mittleren Etage, und die wiederum schneller als die Leiche ganz unten. Die Insekten entwickeln sich unter solchen Bedingungen verschieden schnell.

Meine Aussage lautete also, dass es sehr gut möglich ist, dass die Opfer zum selben Zeitpunkt umgebracht worden sind. Kommentierend darf man sich als Sachverständiger vor Gericht zur Schuldfrage aber nicht äußern.

Sie haben auch an dem spektakulären Fall des Pastors Klaus Geyer mitgearbeitet?

In dem Fall hat ein Kollege eine Ameise untersucht. Das Tier stammte eindeutig aus der näheren Umgebung eines bestimmten Ameisenhaufens. Bei diesen Tieren ist es genetisch vorprogrammiert, dass sie sich nur wenige Meter von ihrem Nest fortbewegen. Besagte Ameise wurde am Stiefel des Beklagten Geyer zu Hause gefunden. Das heißt, er muss am Fundort der ermordeten Ehefrau, wo auch der Ameisenhaufen war, vorbeigelaufen sein. Der Angeklagte hatte aber behauptet, er sei noch nie da gewesen. Das wurde also als Lüge widerlegt. Das heißt zwar noch lange nicht, dass er der Täter ist, aber die falsche Aussage hat ihn belastet. Ich selbst habe in diesem Fall die Untersuchung der Maden vorgenommen, die man im Gesicht der Toten gefunden hat. Man konnte berechnen, wie lange die Tiere auf der Leiche gelebt haben. Das wies auch darauf hin, wie lange die Tote im Freien lag und half den Tötungszeitpunkt zu bestimmen. Die Frage an mich lautete, ob es sein kann, dass die Leiche zu einem Zeitpunkt abgelegt worden ist, wo der Beklagte kein gutes Alibi hatte. In diesem Fall überlappte mein berechneter Tötungszeitraum mit einer Zeit, wo Geyers Alibi eine Lücke hatte.

Ihr letzter schwieriger Fall?

In Leipzig wurde ein Baby tot aufgefunden. Die Mutter hatte die Wohnung verlassen und ist nie wiedergekommen. Die Frage an mich war: Hätte irgendjemand – Nachbarn oder Sozialarbeiter – das Kind retten können, oder war das Kind wenige Stunden nachdem die Mutter die Tür zugemacht hatte, tot. Dann hätte niemand es retten können. In der Windel des Kindes habe ich dann andere Tiere gefunden als im Gesichtsbereich. Die Tiere in der Windel wurden durch Kot- und Uringeruch angezogen. Das waren also keine primären Leichenbewohner. Sie haben mit der Besiedelung begonnen, nachdem das Kind vernachlässigt wurde. Das Kind hatte in die Windel gemacht, die Tiere fanden sich ein. Im Gesichtsbereich kamen die Insekten dagegen erst, nachdem das Kind gestorben ist. Da man aus der Größe und dem Alter der Tiere ungefähr ermitteln konnte, wie lange sie einerseits in der Windel und andererseits im Gesicht gelebt hatten, konnte man sagen, die Besiedlung hat ungefähr da in der Windel angefangen, und so viel später im Gesicht. Innerhalb dieser Zeit muss das Kind gestorben sein. Da ist also eine Weile verstrichen.

Das Kind hätte also gerettet werden können?

Ja. Die Frage ist nur von wem. Vor Gericht sind die Sozialarbeiter angeklagt worden, was ich absurd finde. Die Mutter ist auch verurteilt worden.

Ein anderer Fall, den sie aufklären halfen, wurde von der Boulevardpresse als „das Horrorhaus von Kalk“ bezeichnet.

In dem Fall standen nur eine Couch und ein paar Lebensmittel im Zimmer eines Mietshauses in Kalk. Die restliche Wohnung war leer, aber auf dem Sofa lag dieser mumifizierte Mensch. Der war ganz eigentümlich besiedelt, nämlich nur von Käfern und Käferlarven. Es gab kaum Schmeißfliegen, und auch das Zersetzungsmuster war untypisch: Die Haare hätten zum Beispiel verrutscht sein müssen. Die Erklärung war, dass der Mann einen Heizlüfter angemacht hatte, bevor er gestorben ist. Der hat die Leiche ausgetrocknet. Die Schmeißfliegen haben sich demnach nur sehr kurz darauf entwickeln können. Sie haben den Kopf zwar teilweise freiskelettiert, aber dann wurde es so trocken, dass sie das Gewebe nicht mehr fressen konnten. Daraufhin ist ihre Population zusammengebrochen. Dann kamen jedoch die Speckkäfer, die auch trockenes Leichengewebe fressen können. Von denen hat man riesige Massen gefunden, Berge von ihren Larvenhäuten und von den Käfern selbst. Wir wussten, wann der Heizlüfter ungefähr ausgegangen sein musste. Nach meiner Untersuchung konnte das alles also im Einklang mit einem natürlichen Tod stehen. Der Mann musste nicht umgebracht worden sein.

Sie helfen Mordfälle zu lösen. Können Sie Angaben zur Aufklärungssrate machen?

Es ist nicht bekannt, wie viele Leute getötet werden. Deswegen weiß man auch nicht, wie viele Verbrechen aufgeklärt werden. Manche Schätzungen sagen, jedes zweite Tötungsdelikt wird nicht entdeckt. Andere wiederum, dass jährlich nur ein Mordfall unerkannt bleibt. Man weiß es einfach nicht.

Sie arbeiten als internationaler Experte. Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit in den verschiedenen Ländern?

In Nord- und Südamerika ähnelt das Rechtssystem unseren europäischen Vorstellungen: Der objektive Sachbeweis, den ich als Sachverständige vor Gericht vortrage, hat ein großes Gewicht, oft wiegt er mehr als die Zeugenaussage. Anderswo, in den Philippinen beispielsweise, verlässt sich das Rechtssystem ausschließlich auf die Zeugenaussage, der Sachbeweis existiert dort im Grunde gar nicht.

Auf den ganzen Philippinen gibt es nur eine einzige Rechtsmedizinerin, und deren Mitarbeiter haben ständig Angst, dass das Labor plötzlich in die Luft fliegt. Ihre Arbeit kann schnell eine politische Dimension bekommen, wenn es etwa um Politiker geht. Das verfolgt dann meistens die Polizei, weil die sowieso schon in dem ganzen Korruptionssumpf drinsteckt.

In dem Kinofilm „Schweigen der Lämmer“ wird bei den Opfern auch immer ein bestimmter Falter gefunden.

Da lässt der Mörder eine bestimmte Mottenart als Puppe im Hals der Opfer zurück. Das ist indes nur eine Signatur des Täters, er legt damit absichtlich eine Spur. Genauso könnte er eine Münze oder eine Feder hinterlassen. In Wahrheit ist diese Motte kein Tier, das Leichen besiedelt.

Dr. Mark Benecke ist heute um 20 Uhr zu Gast bei „Radio Hochsee“ mit Falko Hennig im Kaffee Burger, Torstr. 60, Mitte. Thema: Kriminalbiologie