„Wir hatten keine Lust, Helden zu werden“

Der Weltkriegsveteran und Pazifist Ulrich Görlitz (74) über die Sinnlosigkeit des Krieges, die Anarchie als Alternative zur repräsentativen Demokratie, seine Erlebnisse an der Ostfront und wie er als Zwanzigjähriger zum ersten Mal in seinem Leben wirklich frei war: „Ich bin mit den Wolken gezogen“

„Pazifisten haben nichts zu versprechen als ein Leben ohne Gewalt“„Dieses Volk besteht wieder genauso aus Mitläufern wie zu Zeiten Hitlers“

Interview STEFAN KUZMANY

taz: Herr Görlitz, weckt der erste deutsche Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg bei Ihnen Erinnerungen?

Ulrich Görlitz: Erinnerungen? Sie meinen doch nicht den willkürlichen Beginn: „Ab heute wird zurückgeschossen“? Mich bewegt dabei weniger die Vergangenheit als vielmehr Gegenwart und Zukunft. Ich habe zwar Erfahrungen. Aber die sind singulär und zeitbezogen. Jeder Mensch hat Erfahrungen dieser Art. Die dürfen aber nicht als Vorurteile dominieren. Nach Robert Jungks „Der Atomstaat“ müssen wir auch folgern, dass hochindustrialisierte Staaten militärisch nicht zu verteidigen sind. Wesentlich ist die Konsequenz, die man für Gegenwärtiges aus Erfahrung zieht.

Und die wäre?

Die war bei mir spontan nicht anders als bei Franz Josef Strauß: Die Hand soll verdorren, die jemals wieder ein Gewehr hält. Doch wenn plötzlich eigene Interessen ins Spiel kommen, spielen dann alle Erfahrungen gar keine Rolle mehr? Strauß ist ja durch Waffengeschäfte faktisch zum Millionär geworden.

Wer hat Interesse am Krieg?

Eigentlich niemand, aber alle lassen zu, dass viele die Bedingungen für Krieg schaffen. All jene, die ein Geschäft damit verbinden können. Das geht sogar bis hin zu den Leuten, die in den Fabriken Panzer und Raketen bauen. Wenn über 2.000 Leute vor dem Beschluss für den Euro-Fighter auf die Straße gehen und für den Bau dieses Kampfbombers demonstrieren, frage ich mich: Warum sollen nicht auch jene Leute demonstrieren, die die Landminen weiter bauen wollen? Die wollen ja auch leben, mit Familienkutsche, versteht sich. Gibt es da noch eine Schamgrenze? Das sind nicht nur die Kapitalisten, sondern das ist der Kopf der Leute, die für sie arbeiten. Pazifismus ist derzeit eine Idee ohne Chancen, weil sie kaum Chance hat, in nennenswertem Maße Öffentlichkeit zu erreichen. Wer hat schon Interesse daran? Pazifisten haben nichts zu versprechen als ein Leben ohne Gewalt.

Das ist zu wenig aufregend?

Nein, wer dominiert denn die Öffentlichkeit? Es ist heute zu wenig einträglich und fordert so viel gesellschaftliches Umsteuern. „Weiter so“ ist leichter und bedarf keiner Überzeugungsarbeit. Dabei lässt sich nachweisen, dass Frieden viel einträglicher ist. Erasmus hat in seiner „Klage des Friedens“ schon 1517 beschrieben, was man alles mit dem, was es gekostet hat, Städte zu zerstören, tun könnte. Man könnte zum Beispiel für jeden Krieg, der eine Stadt zerstört, eine neue Stadt hinstellen.

Waren Sie schon immer gegen den Krieg?

Als ich mit vierzehn zur Heimatflak kam, war ich da mit zwei Klassen. Der Krieg war unser Alltag und keine Entscheidungsfrage. Wir lagen Tag und Nacht zusammen. Da ist mir erst so einiges aufgegangen. Die unterschiedliche Sozialisierung meiner Mitschüler, von Widerstand- bis SS-Orientierung, hat bei mir erstes Nachdenken in diese Richtung angestoßen. Es wurde auch offen diskutiert, was mit den Juden passiert. Wir wussten zwar nicht, dass die vergast werden. Aber wir wussten, dass die in ein Vernichtungslager kamen.

Verdammen Sie auch den Krieg gegen Hitler?

Grundsätzlich ja. Nur – wenn man einen Gewaltherrscher erst mal so eskalieren lässt, dass ein ganzes Volk in Zwangshaft gebracht wird, dann sehe auch ich die Chance verpasst für eine andere als kriegerische Lösung. Und, das ganze Volk war überzeugt davon: der Mann bringt uns was. Das ist der, den wir brauchen. Der macht uns groß und größer. Goebbels hat dem Journalismus seine heutige Bedeutung dabei erst bewusst gemacht. Nationalismus ist immer die große Idee bei uns Deutschen gewesen. Und sie ist es auch heute. Früher war es die Bundesrepublik Deutschland. Heute heißt es grundsätzlich nur noch Deutschland. Und Herr Schröder spricht im Namen Deutschlands. Gut. Aber wenn er sagt: Im Namen der Deutschen, protestiere ich. Wer ist Deutschland? Ist das der Boden, auf dem wir stehen? Wenn er sagt: die Deutschen, dann lügt er. Und die Deutschen, die sich in dieser Form missbraucht sehen, die sollten endlich mal aufstehen.

Werden sie das tun?

Nein. Ich habe den Eindruck, dass dieses Volk wieder genauso aus Mitläufern besteht wie zu Zeiten Hitlers, obwohl heute – noch, sollte man sagen – keine vergleichbare Angst vor Repression besteht. Nach dem Krieg haben sich alle möglichst schnell als Mitläufer einstufen lassen, damit sie von der Entnazifizierung nicht allzu hart getroffen werden. Das würde auch im nächsten Krieg so passieren, und wieder hat ein Parlament große Regierungsvollmacht vergeben, die kaum zurückzuholen ist. Repräsente Bürger schaffen keine Demokratie, die gewaltfreie Politik entwickeln kann. Sie wird deshalb zunehmend repressiv.

Was wäre die Alternative?

Die Lehren zu ziehen, aus dem was Menschen in den letzten zweihundert Jahren durchgemacht haben. Und die Alternativen, die uns seit damals aufgezeigt worden sind, von Proudhon bis R. Rocker, ernster zu nehmen. Dann würde Anarchismus kein Schimpfwort sein, sondern Quelle hilfreicher Anregungen für eine friedlichere Gesellschaftsentwicklung.

Ihre Utopie?

Eine basisdemokratische Organisation des Staates ist gewollte Utopie. Sie ist es, weil sie nicht zugelassen wird. Und sie kann nur funktionieren, wenn die Gewaltsysteme überwunden werden, allmählich verschwinden. Das, was wir hier haben, ist ein ständiges Verteidigen des Status quo. Doch das, was ist, ist schlecht. Und es kann nur anders werden, wenn man Chancen eröffnet für Veränderung in der gesellschaftlichen Gestaltung. Die werden so weit als irgend geht abgeblockt, siehe Hausbesetzungen. Doch was sich nicht mehr ändern lässt, das ist schon tot. Darum ist auch der Kommunismus kaputtgegangen. Auch der Nationalsozialismus wäre von selbst kaputtgegangen. Denn er musste von Stabilität ausgehen. Doch Stabilität tötet sich selbst. Ein Gewaltsystem erzeugt seine eigenen Abschaffer. Nun wird es global zentriert, aber die „Regierer“ können weltweit nur in Wüsten oder hinter Stacheldraht unbelästigt tagen.

Nach Ihrer Zeit als Flakhelfer wurden Sie Soldat.

Als die Gegner im Osten die deutsche Verteidigungslininie bei Krakau durchbrochen hatten, sollte an der Oder eine neue gehalten werden. Meine Einheit stand in Wadowice, übrigens der Geburtsort des derzeitigen Pabstes. 14 Tage später gerieten wir bei Tarnowitz in einen engen Kessel, aus dem wir in vier Nacht- und Tagmärschen heimlich schlichen. Schließlich lagen wir am Oderdamm bei Oppeln. Dann hieß es: Da kommen sie. Es waren lauter kleine schwarze Pünktchen auf dem frischen Schnee. Immer erst schießen, wenn das Weiße im Auge des Gegners zu sehen ist. Aber das konnte ja niemand prüfen. Und als dann der MG-Schütze ausfiel, dann musste ich als MG-Zwei ran. Ich hab' immer oben drüber geballert. Ohne zu schießen, das ging nicht. Das musste sein. Das musste der Kompanieführer ja hören, dass das Maschinengewehr noch weiter funktioniert.

Hatten Sie damals die Sinnlosigkeit des Krieges begriffen?

Ich war alles in allem abgeschaltet. Ich bin Mittrotter gewesen. Ein Mittrotter, der nicht alles mitmachen will. Aber das war kein bewusstes Wollen, das muss ich zugeben. Ich konnte es einfach nicht. Gewusst hat jeder, dass es zu Ende ging und dass jedes weitere Töten noch sinnloser ist als das bisherige, sofern man sinnlos noch steigern darf.

Sie wurden verwundet.

Ich kam in ein Reservelazarett in Rothenburg, später nach Hamburg in die Genesendenkompanie. Dort wurden dann die Leute zum Einsatz in Berlin zusammengestellt.

Hatten Sie Angst davor?

Natürlich, das war beschissen, wir hatten alle keine Lust, zu böser Letzt noch Helden zu werden. Wer einmal erlebt hat, wie es in einer Genesendenkompanie zugeht, der fragt sich: Wie kann Krieg überhaupt noch in gesunde Köpfe finden? Was da für Menschen waren. Einer lief mit einem Splitter im Gehirn herum, der wanderte. Wenn der Splitter auf der linken Seite war, war er rechtsseitig gelähmt. Wenn er auf der rechten Seite war, war er linksseitig gelähmt. Ein anderer konnte nicht mehr richtig sprechen. Ein anderer hatte zwei Finger weniger an der Hand. Einer war taub. Die meisten schickten sie wieder in den Einsatz. Aber die Fahrt ist dann doch von einem britischen Jagdbomber aufgehalten worden.

Sie waren schon unterwegs nach Berlin.

Ja. Aber die Hauptstrecke war zerstört. Wir haben einen Umweg genommen. Und dann war auch schon bald Schluss. Wir haben uns freiwillig in britische Gefangenschaft begeben. Im Holsteinischen wurden wir gesammelt. Wer wusste, wohin er gehen konnte, ist nach Hause abgehauen. Meine Heimat war Schlesien, da konnte ich nicht mehr hin. Meine Möglichkeit, der Untätigkeit zu entkommen, war Grubenarbeit als Gefangener in Belgien, fast drei Jahre lang.

Dann waren Sie frei.

Das Rote Kreuz hatte inzwischen vermittelt. Meine Eltern waren in Unterfranken, in Gaukönigshofen bei Würzburg. Und dann bin ich dahin gefahren, nach 5 Jahren Kasernierung das erste Mal in meinem Leben allein mit dem Zug in völlig fremder Gegend. Aber ich habe mich durchgefragt. Und dann kam ich da hin. Es war herrliches Herbstwetter, Oktober. Alles war abgeerntet. Meine Eltern waren gerade nicht da. Ich habe meine Klamotten einfach hingeworfen und bin in die Felder gelaufen.

Ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit! Ich wanderte fast taumelnd in diesem Hochgefühl nie gekannter Freiheit, wie man es sonst nur im Traum hat oder in Psychose. Kein Befehl, kein Verbot, kein Dienst- oder Schichtplan und zwanzigjährig. Ich lief ins schier Grenzenlose. Ich habe mich dann ins Gras gelegt, habe in die Wolken geschaut und bin mit ihnen gezogen. Ein solches Gefühl ist einmalig. Und dann hieß es, das Leben wieder in den Griff zu bekommen. In Freiheit. Ohne Zwang, Stacheldraht und Kommando. Und da fragen Sie mich, warum ich Antimilitarist bin.