Auch in Deutsch läuft es nicht gut

Ein OECD-Schulvergleich wird kommende Woche den Rückstand deutscher Schüler zeigen. Die taz hat die Forscher belauscht. Ihre Mängelliste: Eintrichtern statt Probleme lösen. Zu wenig Geld für Grundschulen. Verstärkung sozialer Unterschiede

von MARC BOEHMANN

Es sah aus wie eine ganz normale Klassenarbeit. Die Schüler/innen brüteten an Einzeltischen, zum Beispiel über der Aufgabe, einen Sachtext zum Thema Aids zu erfassen und Fragen dazu zu beantworten. Was wie eine ganz normale Klausur aussah, war Teil der bislang größten Schulleistungsstudie, die Deutschland je erlebt hat. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurden im vergangenen Sommer die Lesekompetenzen von 15-jährigen Acht- und NeuntklässlerInnen repräsentativ gemessen. Eingebettet in die OECD-weite Untersuchung „Pisa“ (Programme for international student assessment) ging es darum, die Lese- und Verstehens-Fähigkeiten von Jugendlichen umfassend zu testen. Kommenden Dienstag werden die Ergebnisse verkündet.

Die Angst im Nacken

Wer LehrerInnen befragt, die mit ihren Klassen an Pisa teilgenommen haben, der musste den Eindruck gewinnen, dass es gerade die Pauker sind, denen die Angst im Nacken sitzt. Was bis jetzt an Ergebnissen durchgesickert ist, bestätigt das: Auch die LehrerInnen müssen sich Gedanken machen – und mit ihnen die gesamte Bildungspolitik.

Die Untersuchung demonstriert, wie sehr deutsche SchülerInnen Schwierigkeiten haben, Texte aller Art, von einem Gedicht über einen Leserbrief bis zum Lexikonartikel, zu verstehen und auf die eigene Lebenssituation zu beziehen. Deutschland rangiert im Vergleich zu den anderen OECD-Staaten nur im unteren Mittelfeld. Der Mythos von der Exzellenz des deutschen Schulwesens wird – wieder einmal – angekratzt.

Methodenarmut

Nicht weniger alarmierend ist auch das zweite Ergebnis: Mehr als in vielen anderen Ländern hängt die Schulleistung eines Schülers mit dem sozialen Status seiner Eltern zusammen. Pointiert ausgedrückt: Schule gelingt es nicht, Chancengleichheit herzustellen. Zwei Drittel der Leistungsunterschiede zwischen den Schülern lassen sich bei uns mit dem familiären Hintergrund erklären. Besonders Jugendliche aus Arbeiter- und Einwandererfamilien sind die Verlierer des deutschen Schulsystems. Was bereits die Tims-Studien, die Mathematik-Leistungstests von 1995 und 1999, gezeigt haben, bestätigt auch Pisa. Offenbar gibt es an unseren Schulen einen festen Prozentsatz vor allem an Haupt- und Sonderschülern, der viel zu wenig gefördert wird, ja mitunter abgeschrieben wird. Anders lässt sich auch die überaus hohe Schulabbrecher-Quote von fast 10 Prozent nicht erklären.

Damit erhält Deutschland auch die Quittung für seine nicht gemachten Hausaufgaben im Bereich der Bildungsausgaben: Während hierzulande gerade einmal 3.490 (kaufkraftbereinigte) Dollar für einen Grundschüler ausgegeben werden, investieren die USA 5.718 Dollar pro Kopf in der Primarstufe, den Dänen ist ein Grundschüler sogar 6.596 Dollar wert. Erst in der Oberstufe des Gymnasiums verkehrt sich das Verhältnis. Das bedeutet: Wenn die Unterschichtskinder durch den Rost gefallen sind, ist genug Geld da, um die Gutsituierten zusätzlich zu fördern.

Zum Dritten verweisen die Ergebnisse auch auf die Art und Weise, wie an deutschen Schulen Unterricht abläuft. Schon Tims bewies, dass hierzulande Mathematik und Physik in der Regel mehr stupides Eintrichtern als problemorientiertes Denken bedeutet. Nun wird der herkömmliche Deutschunterricht in Frage gestellt. Etwa die Unart, literarische Texte lehrerzentriert „durchzunehmen“ und anschließend eindimensional zu fragen: „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Oder Gedichte auf dem Operationstisch der Philologie nach Versmaß, Reimschema und Stilmittel zu sezieren – und dabei zu vergessen, den Text in Beziehung zu Lebenswirklichkeit und Erfahrungen der SchülerInnen zu setzen. Offenbar wird der gezielte Umgang mit Sachtexten sträflich vernachlässigt.

Pisa stellt zentrale Dogmen deutscher Schulpolitik auf den Prüfstand. Anscheinend gelingt es vielen integrativen Schulsystemen wesentlich besser, wirkliche Begabungen zu fördern und nicht nur den Geldbeutel der Eltern zu bestätigen. Die Deutschland-spezifische frühe Auslese nach der 4. Grundschulklasse dürfte spätestens jetzt als Ideologie entlarvt sein. Unser viergliedriges Schulsystem produziert erst die Schulversager, die es vorgibt zu verhindern.

Dass gerade sozial schwächere SchülerInnen und Jugendliche aus Einwandererfamilien überproportional schlecht abschnitten, ist ein bildungs- und sozialpolitischer Skandal. Bis jetzt hat sich Deutschland an dem Problem vorbeigedrückt, wie Kinder und Jugendliche gezielt zu fördern sind, die Deutsch nicht als Muttersprache haben.

Auch die vermeintliche Stärke des Deutschunterrichts, Texte philologisch zu analysieren und zu interpretieren, entpuppt sich als Binsenweisheit. Solange jene Texte keine Rolle spielen, die zur Alltagsbewältigung und zum Weiterlernen ermuntern, solange LehrerInnen eigene Interpretationen den Jugendlichen überstülpen wollen, werden immense Ressourcen verschenkt.

Der Autor, Hauptschullehrer und Diplompädagoge, hat die Vorträge der deutschen Pisa-Forscher ausgewertet