Der Wahlkampf hat begonnen

Knapp zwei Wochen nach der dramatischen Vertrauensabstimmung kehrt der Bundestag zur Innenpolitik zurück – und das auf erbärmlichem Niveau

Die Spielregeln der Debatte: simple Behauptungen aufstellen, lauter sinnlose Zahlen herunterbeten

aus Berlin MATTHIAS URBACH

Kerzengerade steht er da, während er spricht. Auf dem Rednerpult vor ihm steht nur ein Glas Wasser. Kein Manuskript, keine Notizen. Der grüne Finanzpolitiker Oswald Metzger hält wie stets seine Rede völlig frei. Nach jedem Gedanken nimmt er ein Schlückchen Wasser, als sauge er daraus die nächste Idee.

Auch inhaltlich neigt Metzger zu einem Verhalten, das für einen Politiker ungewöhnlich ist: Er nimmt das eine oder andere Argument der Gegenseite sogar ernst.

Ein Argument der Opposition besagt, allein Finanzminister Hans Eichel habe den Anstieg der Neuverschuldung auf 2,5 Prozent des Sozialprodukts zu verantworten. In dieser Zahl seien auch die Länderhaushalte enthalten, klärt Metzger auf. Und damit auch CDU-Finanzminister für die Erhöhung verantwortlich.

Gestern, am zweiten Tag der Haushaltsdebatte, war die Aussprache über den Etat des Kanzlers angesetzt. Dieser Termin gilt traditionell als Sternstunde des Parlaments, es ist der Zeitpunkt für leidenschaftlichen Streit über die Bilanz der gesamten Regierungspolitik. Doch gestern mutierte die Debatte zum simplen Wahlkampfauftritt. Von der Dramatik der vergangenen Wochen zwischen Vertrauensfrage und Afghanistan-Einsatz war kaum noch etwas zu spüren. Statt auf den 11. September 2001 blicken die Parteien jetzt auf den 22. September 2002, den Termin der Bundestagswahl. Und darauf, ihren Platz in der abendlichen „Tagesschau“ zu ergattern.

Das Spiel beruht auf möglichst simplen Behauptungen und dem Austausch sinnloser Zahlen. Das funktioniert etwa so: Die Regierung erklärt, ihre Politik sei gut, weil die Zahl der Unternehmensgründungen steige. Die Opposition sagt, die Politik sei schlecht, weil die Zahl der Unternehmenspleiten steige. Beides sagt nichts über die Güte der Wirtschaftspolitik aus, sondern allein der Saldo aus Gründungen und Pleiten. Ein Anruf beim Statistischen Bundesamt ergibt, das diese Zahl nicht genau bekannt ist.

CSU-Landesgruppenchef Michael Glos und FDP-Parteichef Guido Westerwelle taten sich gestern besonders hervor bei den simplen Parolen. So warf Glos dem Finanzminister „Abzockerei“ zu Lasten der Kleinaktionäre der Telekom vor, weil er mit der Versteigerung der UMTS-Lizenzen so viel Geld eingefahren habe. Als wenn es nicht die Unternehmen selbst gewesen wären, die sich gegenseitig mit ihren Geboten hochgetrieben hatten. Und Guido Westerwelle behauptete: „Wer Steuern senkt, kriegt Haushaltsüberschüsse.“ Als würden sich Steuerreformen grundsätzlich von selbst finanzieren.

Die beiden Oppositionsredner wurden nur noch von SPD-Fraktionschef Peter Struck übertroffen. Er quälte die Unionspolitiker so lange mit Zitaten und Bemerkungen zur CDU-Spendenaffäre, bis sie durch lautes Zetern Strucks Rede schließlich übertönten. Angesichts solchen Abschweifens wollte nicht einmal die Bundestags-Vizepräsidentin Anke Fuchs (SPD) die Pöbler zur Ordnung rufen. Was tut man nicht alles, um abzulenken: Die angehende Rezession droht des Kanzlers Wahlversprechen zu gefährden.

Doch selbst einfache Botschaften können schwer wiegende Konsequenzen haben. Das spürt nun der Kanzler. Kaum gewählt, reklamierte er nach der Bundestagswahl von 1998 den damaligen Wirtschaftsaufschwung gleich für sich. Dabei führt die Konjunktur ein Eigenleben, das von der Politik recht unabhängig ist. Nun, wo die Arbeitslosigkeit weit über die magische Zahl von 3,5 Millionen steigt, hat Schröder es umso schwerer, seine Unschuld zu beweisen. Es liegt nicht an der Bundesregierung, dass Deutschland beim Wirtschaftswachstum an letzter Stelle in der EU steht – das versuchte Schröder gestern mit ungewöhnlich vielen Zahlen zu beweisen. Unsere Wirtschaft sei besonders eng mit der US-Ökonomie verflochten – und deshalb schlage die dortige Rezession hierzulande voll durch.

Derweil zitierten Westerwelle und CDU-Chefin Angela Merkel genüsslich aus einem Interview, das Schröder kurz vor der letzten Wahl gegeben hatte: „Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosenquote signifikant zu senken, dann haben wir es weder verdient, wiedergewählt zu werden, noch werden wir wiedergewählt.“ Eine bessere Vorlage hätte der Kanzler nicht geben können. Das kommt davon, wenn man so tut, als hätte man die Höhe der Arbeitslosigkeit ganz alleine in der Hand.

Doch auch die Opposition schoss mit einer simplen Parole bereits ein Eigentor. Am Sonntag nahm Kanzlerkandidatur-Kandidat Edmund Stoiber die Forderung der Opposition zurück, die nächste Stufe der Steuerreform müsse vorgezogen werden, um die Wirtschaft anzukurbeln. Jetzt, wo der Wahlkampf langsam beginnt und Stoiber als wahrscheinlichster Kandidat gilt, muss auch der sich hüten, Unsinniges zu fordern. Vergeblich versuchten gestern Schröder und der grüne Fraktionschef Rezzo Schlauch, Merkel zu einer Äußerung in dieser Frage zu provozieren.

Merkel legte stattdessen eine vergleichsweise milde Rede vor. Wie sie ihre vielen Forderungen finanzieren will, sagte sie trotzdem nicht. Dafür kündigte sie an, welche Gesetze sie nach ihrer Wahl wieder einsacken würde: Dazu gehören Frauen-Teilzeit, Betriebsverfassungsnovelle, 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigengesetz, Ökosteuer und offenbar noch einiges mehr. Eine etwas übereifrige Liste. Der Wahlkampf hat eben schon begonnen.