Kleine Phänomenologie der Zuspätflieger
: themenläden und andere clubs
Storch des Jahres

Habe neulich am Himmel über der Kochstraße ein interessantes Zugvogelphänomen beobachtet. Aufmerksam gemacht wurde ich durch andere Passanten, die sich den Hals verrenkten: ein riesiger Schwarm Vögel flatterte wie ferngesteuert in zackig-gleichmäßigem Hin-und-Her-und-Auf-und-Ab durch die Luft. So was sieht man in abgeschwächter Form zwar oft, aber diese Vögel waren wilder. Sie stürzten sich wie fliegende Lemminge in eine Richtung, schreckten dann kurz vor der Ecke des Ex-Goetheinstitus und jetzigen Spielhöllenwunderland zurück, flogen wie ein Mann, bzw. wie ein Vogel mit 130 km/h in eine andere Richtung, imitierten dann ein Pollock-Bild und bildeten hektisch noch mal eben eine Boing-Formation.

Ich war richtig froh, als endlich der Bus kam und ich den Schauplatz verlassen konnte, denn besonders machte mir eine kleine Gruppe Abweichler (vielleicht Zuspätflieger) Sorgen, die ich schon als platte, zarte Federknäuel an den grottenhäßlichen Checkpoint-Charlie-Kunstbewucherungen kleben sah. Sofort rief ich einen befreundeten Redakteur vom Hasenblatt an, um ihn über dieses seltsame Vogelhobby auszufragen. Das Hasenblatt heißt nicht wirklich so, und ist eigentlich eine Umwelt-und-Tiere-Monatszeitung, aber besagter Redakteur ist Experte. Er sitzt alle Nase lang in der Jury irgendwelcher „Insekt des Jahres“- oder „Amphibie des Jahres“-Wahlen, und kann einem in drei klaren Sätzen darlegen, warum der Zitronenfalter den diesjährigen Miss-Insekt-Titel (von der Plattbauchlibelle) gewonnen hat: er ist nämlich der einzige Schmetterling, der überwintern kann. Dazu legt er sich mit ausgebreiteten Flügeln unter ein gefrorenes Blatt in den Wald und spielt tot. Wenn man ihn findet, kann man den kleinen Flatterkäfer wieder lebendig pusten oder hauchen. Über die fliegenden Suicidal Tendencies wußte der Hasenblattchef jedoch leider nichts: das Zugvogelphänomen sei noch nicht hinreichend erforscht, versuchte er sich herauszunuscheln.

Später, das Problem ließ mich nicht los, gesellte sich auf dem Weg vom Friedrichshainer Lovelite-Club nach Hause ein älterer Lesebrillenträger zu uns, er ging einfach mit, wie man früher öfter hinter Gruppen von jungen Leuten herging, die nach Privatparty aussahen. (So konnte man sich ganz hervorragend auf fremde Feste schmuggeln, meistens war die Gruppe entweder zu schüchtern oder zu angetrunken, um zu fragen, wen man eigentlich kannte, und war man erst mal die Treppe zur Hinterhauswohnung hinaufgestiefelt, musste man ja nur noch behaupten, dass Christian (Stefan/Markus/Klaus) einen eingeladen habe.)

Jedenfalls, jener Fremde vor dem Lovelite sah aus wie ein Wissenschaftler, das Gespräch kaprizierte sich schnell auf Vögel, und der Mann erzählte eine traurige Geschichte über Störche, denen die Flügel gestutzt werden, damit sie nicht mehr im Winter nach Afrika fliegen. Wenn sie das nämlich täten, hätten sie eine große Chance, entweder über Frankreich abgeschossen und zu „Mousse au cigogne“ verarbeitet zu werden, oder sich in irgendwelchen Hochspannungsleitungen zu verfangen. Jedes Jahr kämen weniger Störche zurück.

Vielleicht, dachte ich, während wir durch die kalte Nacht latschten und dem bekloppten Orni zuhörten, ist das Zugvogelphänomen gar nicht so weit entfernt von der einfach-fremden-Leuten-folgen-Sache: die hinteren Vögel behaupten stumpf, die vorderen hätten sie eingeladen, während die vorderen versuchen, die hinteren möglichst abzuhängen. Diesen Gedankengang konnte ich zwar morgens, als an die Gimlets nur noch der Zungenbelag erinnerte, nicht mehr so richtig nachvollziehen. Aufschreiben konnte ich ihn aber offensichtlich. JENNI ZYLKA