Ausgrenzung ist der Tod

„Aids – das geht uns alle an. Dich auch?“ Das Motto des heutigen Weltaidstags ignoriert das größte Infektionsrisiko: die Diskriminierung, die Schwule in der eigenen Familie erleben

von JÖRG HUTTER

Ein Besuch auf der Homepage der Deutschen Aidshilfe ruft einiges Erstaunen hervor. Unter dem Thema „Familie“ findet sich zwar ein längerer Artikel über die schwule Gemeinschaft, die dort als große Familie charakterisiert wird. Jedoch sucht der Besucher vergeblich nach einer Aussage über die Herkunftsfamilien von Homosexuellen, so als ob diese quasi als entwurzelte, biografielose Lebewesen in die schwule Welt hineinkatapultiert würden. Die Herkunftsfamilie aber zählt zu den wichtigsten und lebenslang wirkenden Beziehungen eines jeden Menschen.

Ein empirisches Forschungsprojekt an der Universität Bremen hat bereits vor einigen Jahren zu Tage gefördert, dass problematische Eltern-Sohn-Beziehungen in vielen Fällen dazu führen, dass der Sohn sich selbst und seine Homosexualität nur schwer akzeptieren kann. Ausgrenzende familiäre Lebenserfahrungen und mangelndes Selbstwertgefühl belasten das psychische Wohlbefinden der Männer derart, dass es sie für eine HIV-Infektion in besonderem Maße empfänglich macht. Einige O-Töne sollen die Dramatik der familiären Auseinandersetzung verdeutlichen.

Jürgen, 33, Arzt: „Ich war frisch verliebt und wollte mit dem Mann zusammenziehen. Dann hab ich gesagt: ‚Mutti, ich ziehe aus, weil ich mit dem Patrick zusammen leben möchte, weil ich mich in den Patrick verliebt habe.‘ Dann hat meine Mutter gefragt: ‚Was meinst du mit Liebe?‘ Da hab‘ ich geantwortet: ‚Ja, wir sind schwul.‘ Oh, und dann war der Teufel los. Sie hat geschrien. ‚Nein! Ich hab’s immer geahnt, ich hab’s immer geahnt, Junge, wir gehen zum Arzt. Ich zahl dir jede Therapie. Lass das niemanden erfahren, Vater kriegt einen Infarkt, wenn der das erfährt. Und die Nachbarn, die Verwandten, die dürfen das nie erfahren.‘ Und Heulen und Schluchzen und alles Mögliche. Und ich dachte, das kann doch wohl nicht wahr sein. [. . .] Ich hätte Unterstützung gebraucht, die habe ich nicht bekommen, überhaupt nicht!“

Theo, 56, Publizist: „In meiner Familie wurde nie darüber gesprochen. Mein Bruder ist ein Superspießer, die Eltern waren’s auch. [. . .] Meine Mutter hat mich noch eine Stunde vor ihrem Tod, jetzt vor sechzehn Jahren, gefragt: ‚Junge, du hast doch eine nette Freundin?‘ Hab ich ja gesagt. Und mein Vater forderte mich immer auf bis zu seinem Tode: ‚Heirate, Junge, heirate, heirate!‘“

Hannes, 22, Regieassistent: „Ich habe erst meine Tante eingeweiht, weil ich wusste, dass die so ziemlich die beste Freundin meiner Mutter ist. Damit meine Mutter eine Anlaufstelle hat, wo sie sich ausheulen kann und wo sie sich selber nicht überwinden muss, das Thema anzusprechen. [. . .] Ich kann meine Mutter verstehen, wenn sie angewidert ist. Ich finde das zwar nicht gut, wie sie reagiert. Es ist für sie wohl kein Problem, das intellektuell zu akzeptieren. Sie kriegt halt trotzdem zu viel, wenn sie zwei Männer Arm in Arm sieht.“

Rudolf, 23, Arbeiter: „Mein erster Lover rief mal bei mir zu Hause an und wollte mich sprechen. Und das war vielleicht der verkehrteste Fehler, den ich gemacht habe, ihm meine Telefonnummer zu geben. Meine Großmutter schrie ganz hysterisch. Meine Eltern hatten wohl schon vermutet, dass ich in diese Richtung tendiere. Ja, und dann kam es zu einer fürchterlichen Prügelei zwischen mir und meinem Vater. Er hat mir sieben Rippen gebrochen und mich am Rücken verletzt. Dann bin ich abgehauen, beziehungsweise meine Freundin, also die Lehrerin, die ich hatte, hat mich nach Hamburg in einen Jugendnotdienst gefahren.“

Micha, 21, Arbeiter: „Als meine Eltern erfuhren, dass ich homosexuell bin, haben sie mich rausgeschmissen. Dann hab ich einen Ausraster gekriegt und meine Schlosserlehre abgebrochen. [. . .] Ich hab meine Eltern noch mal angerufen und gemeint: ‚Ich bin doch euer Sohn. Ihr könnt mich doch nicht im Stich lassen.‘ Meine Mutter hat dann einfach aufgelegt. Dann bin ich nur noch anschaffen gegangen.“

In dem Forschungsprojekt wurde entgegen dem gängigen Trend nach den sozialen – und nicht nur biologischen – Ursachen für die Ausbreitung des HI-Virus gefragt und dafür biografische Interviews mit 111 homosexuellen Männern geführt. In Deutschland zählen homo- und bisexuelle Männer zu der größten von HIV infizierten Bevölkerungsgruppe. Die Ergebnisse dieser Studie seien hier in Kürze rekapituliert.

Männer, die Sex mit anderen Männern haben, müssen ihre Homosexualität trotz aller Liberalisierung auch heute noch unter dem Eindruck gesellschaftlicher Ausgrenzung organisieren. Auf diese Herausforderung reagieren sie mit unterschiedlichen Techniken eines Stigma-Managements, das heißt verschiedenen Strategien, mit denen sie die Information über ihre Andersartigkeit verheimlichen oder offenbaren. Die Art und Weise dieses Stigma-Managements entscheidet darüber, wie die Männer ihre sexuellen Begegnungen sowie ihre Partnerschaften ausgestalten. Je stärker eine bestimmte Form der Informationskontrolle – etwa ein eher passives Verheimlichen – die Ausgestaltung der sexuellen Begegnung erzwingt, desto fremdbestimmter erweist sich der intime Handlungsstil.

Fremdbestimmte Sexualität wirkt nicht nur negativ auf das Präventionsverhalten (es lässt sich eben nur dann Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen, wenn man die sexuelle Situation bewusst mitgestalten kann), sondern erhöht auch die Vulnerabilität, die Empfänglichkeit einer Population gegenüber dem Krankheitserreger HIV. Das erhöhte Infektionsrisiko unter homo- und bisexuellen Männern lässt sich demnach nicht nur durch ihr Risikoverhalten, sondern auch durch die anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung erklären. Die Botschaft lautet demnach simpel und provokant zugleich: Ausgrenzung macht krank und tötet in letzter Konsequenz sogar.

Die Herkunftsfamilien zählen also zu den problematischsten Handlungsfeldern der schwulen Männer. Hier fällt es ihnen am schwersten, ihre Andersartigkeit zu behaupten. Somit kristallisiert sich nicht am Arbeitsplatz oder anderen Orten, sondern in den Elternhäusern der schwulen Männer am klarsten heraus, wie es um die gesellschaftliche Akzeptanz homosexueller Lebensstile tatsächlich bestellt ist. In welcher Form der schwule Sohn sein Schwulsein tatsächlich bewältigen kann, hängt entscheidend von den eigenen Eltern ab.

Und auf welcher Ebene bewegt sich die Debatte zum heutigen 14. Weltaidstag? Da heißt das Motto „Aids – das geht uns alle an. Dich auch?“. Mit diesem Spruch wollen die Verantwortlichen insbesondere junge Männer ansprechen, indem sie an ein männerspezifisches Infektionsrisiko erinnern und an die männliche Verantwortung beim Sexualverkehr appellieren. Auf die Frage, wer für die jedes Jahr erkorenen Leitthemen verantwortlich zeichnet, verweist Rainer Schilling, Referent bei der Deutschen Aidshilfe in Berlin, auf die Aidsorganisation der Vereinten Nationen mit dem Namen Unaids. Das englischsprachige Motto, so Schilling, laute jedoch „I care . . . Do you?, was etwa bedeute: „Ich übernehme Verantwortung für mich und meine Sexualpartner – tust du es auch?“, ein Leitspruch, der sich besser auf länderspezifische Problemlagen herunterbrechen lasse als die wenig aussagekräftige deutsche Fassung.

Ohnehin glänzen die jedes Jahr neu erfundenen Denksprüche zum Weltaidstag nicht gerade durch ihren Gehalt, wenn man etwa die Aufrufe „Unser Leben – unsere Welt“, „Der Herausforderung gemeinsam begegnen“ oder „Zeit zu handeln“ Revue passieren lässt. Dabei könnte das bislang immer noch relativ große Medieninteresse an diesem Tag als Chance begriffen werden, statt der inhaltsleeren Aussagen konkrete Botschaften an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen.

Damit die Themenauswahl nicht einer beliebigen Zufallsauslese gleicht und sich eine Kampagne zum Weltaidstag fundiert begründen lässt, sollten zuvor die Daten über die Krankheitsverteilung analysiert werden. Aus den gemeldeten HIV-Infektionen lässt sich relativ leicht ein für Deutschland auffälliger Trend ablesen: Während die Anzahl der Neuinfektionen seit 1993 kontinuierlich sinkt, verharren die gemeldeten Infektionen unter homo- und bisexuellen Männern (absolute Zahlen) auf anhaltend hohem Niveau. Ihr Anteil an den Neuinfektionen stieg deshalb während der letzten sieben Jahre von 27 auf 38 Prozent. Die epidemiologischen Daten rufen deshalb geradezu danach, das von der UNO auserkorenen Leitthema „Männer“ hier in Deutschland auf die Gruppe der homo- und bisexuellen Männer zuzuspitzen.

Die Papiere der Deutschen Aidshilfe und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hangeln sich dagegen recht hilflos an den Ausführungen von Unaids entlang, etwa dann, wenn den Männern auf Grund ihres Rollenverhaltens generell eine erhöhte Risikobereitschaft unterstellt wird. Das vermeintlich gefährliche Männerbild, was hier konstruiert wird, zeichnet Männer als waghalsige Draufgänger, die keine Schwäche zeigen, keinen Schmerz kennen und folglich auch keine Rücksicht auf andere nehmen. Die derart durch Gesellschaft und Kultur geprägten Männer würden jedoch selbst zu „Opfern“, da sie sich selbst gefährdeten, erst recht dann, wenn sie durch soziale oder ökonomische Benachteiligungen besonders „verletzlich“ seien. Zu fragen ist, was diese Spekulationen mit den tatsächlichen Ausgrenzungserfahrungen der schwulen Männer zu tun haben. Wohl ziemlich gar nichts!

Anstatt sich auf derartige Assoziationen hinsichtlich eines vemeintlich männlich geprägten Risikoverhaltens zu versteigen, sollten die vorliegenden Forschungsergebnisse zur Kenntnis genommen werden. Da diese aufzeigen, dass sich die Eltern-Sohn-Beziehungen als besonders schwierig und konfliktträchtig erweisen und damit entscheidend dazu beitragen, ob der Sohn ausgrenzende Lebenserfahrungen bewältigen kann, muss Elternarbeit in all ihren Facetten als strukturelle Prävention begriffen, entsprechend gefördert und unterstützt werden.

Wie sehen die Eltern selbst ihre Rolle? Sigrid Pusch vom Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Homosexuellen zeigt bei der Frage nach Aids keinerlei Berührungsängste. Das Thema Aids komme bei jedem Anruf von betroffenen Eltern vor. Nach der Frage „Was habe ich falsch gemacht?“ falle meist die nach dem Risiko einer HIV-Infektion. Die meisten Eltern könnten die offenbarte Homosexualität ihres Kindes nicht ohne das Risiko einer Aidserkrankung denken, so Sigrid Pusch.

Und wie reagiert sie auf diese Sorgen? „Ich sage immer, dass es von größter Wichtigkeit ist, dass das eigene Kind von den Eltern angenommen wird“, sagt Pusch. „Es handelt sich doch um eine Liebesbeziehung zwischen Kindern und ihren Eltern. Und diese darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.“ Auf der letzten Bundestagung des Verbandes im März diesen Jahres sprachen Wolfgang Müller von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Karl Lemmen von der Deutschen Aidshilfe zum Thema. „Wir sind uns unserer Rolle bei dem Kampf gegen Aids sehr bewusst“, sagt Sigrid Pusch. „Wenn die Eltern offen mit ihren Kindern umgehen, dann ist das die größte Prävention vor einer HIV-Infektion.“

Unsere eigenen Eltern avancieren somit zum größten Bündnispartner beim Kampf gegen Diskriminierung und gesellschaftliche Ächtung. So hat sich beispielsweise das Ehepaar Werner und Rosemarie Knebel aus der Bremer Elterngruppe mit einer Eingabe an den Deutschen Presserat gegen die homophoben Äußerungen eines Redakteurs von Bild der Frau zur Wehr gesetzt. Elternarbeit muss deshalb fest in die HIV-Präventionsarbeit der Zukunft integriert werden. Sie liegt den Aidsspezialisten quasi zu Füßen. Nur sich bücken und zugreifen müssten die Strategen bei der Deutschen Aidshilfe und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung schon selbst. Denn von alleine fällt ihnen diese Unterstützung sicherlich nicht in den Schoß.

JÖRG HUTTER, 43, ist Politologe. Er arbeitet in Hamburg als Sozialmanager. Bis 1998 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Schwul-lesbischen Studien an der Universität Bremen. Die Ergebnisse des erwähnten Forschungsprojekts sind nachzulesen in: „Ausgrenzung macht krank. Homosexuellenfeindlichkeit und HIV-Infektion“. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2000, 198 Seiten, 38 DM